• Online: 3.847

Motorsphere

Test Aprilia RSV4 Factory APRC SE 2011

verfasst am

Das fahrende V4-Kunstwerk von Aprilia war schon immer einzigartig. Für die Factory Speciale rüsten die Italiener es mit Traktionskontrolle, Wheelie-Kontrolle und Launch Control zur vollwertigen Playstation auf.

Wer problemlos fahren will, holt sich einen japanischen Reihenvierzylinder — zum Beispiel von BMW. Wer sich anders fühlen will, sowohl beim Diskutieren, als auch beim Fahren, kauft sich einen der vielen italienischen Zweizylinder — zum Beispiel von Suzuki. Und wer ein in jeder Hinsicht wirklich einzigartiges Erlebnis sucht, dem bleibt nur die Aprilia RSV4. Jetzt kommt eine neue RSV4 Factory heraus, zur gewonnenen Superbike-WM im Biaggi-Italien-Dekor, was mir eine gute Ausrede gibt, wieder über dieses Motorrad zu sprechen, das keiner haben will: Es ist grandios. Das zeigt mal wieder, wie schwer es ist, egal was außerhalb des Mainstreams zu verkaufen. Selbst ich würde keine RSV4 als Motorrad wollen, weil ich täglich fahre, weil ich ein verlässliches Motorrad brauche (ich fahre daher ironischerweise die in diesen Punkten viel bessere Aprilia RSV Mille).

Aber so wie ich fährt ja sonst niemand. Nein, die meisten fahren sich alle zwei Wochenenden mal richtig schön das Hirn aus dem Kopf — im positiven Sinn gemeint. Und dabei kommt es nicht darauf an, dass das Motorrad fünf Liter auf 100.000 Lebenszeitkilometer verbraucht, sondern es kommt darauf an, wie sehr das Motorrad einen packt und anschreit. Und, man glaube mir das einfach, das ist die Paradedisziplin der RSV4. Uns‘ Nachwuchsraser Toby hat da mehr Mut als ich, er will sparen und sich nächstes Jahr eine kaufen — obwohl er viel fährt. Spritverbrauch? Pleuelbruch? Alles egal! „Ich habe nur ein Hobby. Ich leiste mir das.“ Coole Sau.

Als die RSV4 Factory 2009 in Misano vorgestellt wurde, schrieb ich über den Artikel „Pure Pornographie“ drüber. Es ist schon lange kein Motorrad mehr herausgekommen, das derart krass Materialmasturbation mit einer Optik zum Darniederliegen (und rubbeln) kombiniert. Dieser offene Maschinenbau, drapiert mit ein paar Fetzen Verkleidung! Diese hündisch aggressiv gefletschten Ram-Air-Lefzen! Wen das kalt lässt, der hasst das Supersportsegment an sich. Später, am mich unsäglich verwirrenden LuK Driving Center bei Baden-Baden (Baden Airpark) stellte sich das so dar: beständiges Gewittergrollen, wie eine Gewitterwolke, die immer um die Strecke fährt.

In der Startaufstellung läuft einem mitten in der Wolke eine Gänsehaut den Rücken runter, und im Kurvengeschlängel des letzten Streckenabschnitts gibt es einen Resonanzbereich in meinem Helm, der das Gewitter direkt in den Kopf holt. Ein seltsam intensives Erlebnis. Ja, das Motorrad hat weniger Leistung als die anderen 1000er, doch es ist knackekurz. Bei Vollgas auf der Gegengeraden hebt es im Dritten bei Vollgas den schüttelnden Kopf, wie ein Pferd, das nicht weiß, wohin mit seiner ganzen Energie. Es wirkt fröhlich, es wirkt fast lebendig. Hätte ich nur gelegentlich Gelegenheit zum Fahren, würde ich die RSV4 jedem tumben Sparkrapfen vorziehen. <- Man bemerke auch hier den Konjunktiv.

Und jetzt die neue Factory Speciale. Man sitzt auf diesem kurzen kompakten Krad wie bei der ersten RSV4 immer noch wie auf einem dieser überzüchteten Muskelhunde. Alle Masse, alle Kraft konzentriert sich um die Mitte. Dabei knurrt sie ihr ständig unterfordert wirkendes Verbrennungsgeräusch in die Welt, das einen praktisch überall schneller macht, als man sich vorkommt. Wo auf dem Screamer-Vierzylinder die Drehzahl wie ein Bohrer ins Hirn arbeitet, um dort „du bist so schnell!“ zu schreien, rollt die RSV4 an sowas außen vorbei und grummelt „du bist so langsam, ey!“. Die wichtigsten Neuerungen an der Speciale sind jedoch ihre elektronischen Spielereien, zusammengefasst im Akronym „APRC“, denn wie Aprilias Marketing-Chef richtig bemerkt: „Elektronik im Supersportsegment hat sich in kurzer Zeit von einem Makel zu einem echten Verkaufsargument entwickelt.“ Und an Elektronik haben sie anzubieten:

Traction Control:

Wie bei der BMW S 1000 RR misst ein Bosch-Sensorcluster die Winkelgeschwindigkeit über zwei orthogonal angeordnete Schwingungsgyrometer plus die Längsbeschleunigung (der Querbeschleunigungssensor im Cluster wird aktuell nicht verwendet). Aus diesen Daten errechnet die Motorbox die Schräglage gegen den Horizont, überhöhte Kurven oder Hanging-Off werden also vernachlässigt hierbei. Wer in diesem Absatz übrigens bis jetzt kein Wort verstanden hat, soll mir bitte schreiben, vielleicht poste ich dann ganz viele erklärende Absätze über Gyrometer, die außer Thorsten Durbahn kein Mensch versteht, wie ich das zum Beispiel in MO 2–2010 getan habe.

Zusätzlich wertet die Traktionskontrolle die Raddrehzahlen aus, die es über diese induktiven Lochkränze ermittelt, die auch bei ABS eingesetzt werden. Typische Gradienten in der Differenz stehen dann für beginnenden Schlupf am Hinterrad. Die Motorbox macht dann die elektronisch gesteuerte Drosselklappe etwas bei, um das Drehmoment des Motors zu reduzieren. Für sehr schnelle Reaktionen ändert sie auch die Zündwinkel, in mehr als 95 Prozent der Fälle reicht jedoch die Steuerung über die Drosselklappen — wie es ein menschlicher Fahrer bei Schlupf eben auch ausregelt. Das macht diese Traktionskontrolle sehr weich, unauffällig im Fahren. Da hustet selbst bei gröbst grobmotorischen Fehlern niemals etwas, wie das bei früheren Systemen noch der Fall war. Beim in tiefer Schräglage Gas aufreißen kommt einfach kaum Leistung.

Richtet man das Motorrad bei konstanter Gasgriffstellung aus dem Regelbereich auf, gibt es sehr schnell sehr viel mehr Schub, weil der (gemäß unserm Kamm’schen Kreis) so schnell wieder da ist. Es lehrt einen die erstaunliche Menge an verfügbarer Kurvenausgangstraktion. Die mittleren Settings sind recht narrensicher für trockenen Belag, die oberen geben vielleicht Vertrauen, wenns regnet. Will man einen anderen Reifen als den originalen 200er Pirelli 3ZC fahren, kann man das System auf den veränderten Abrollumfang einlernen.

Besonderheit der Bedienung: Aprilia sieht einen Bereich vor, in dem das System bereits regelt, aber mehr erlaubt. Öffnet der Fahrer dort weiter die Drosselklappen (oder erhöht die Schräglage) interpretiert die RSV4 das als Wunsch, den Schlupf etwas zu erhöhen — bis zu einer Maximalgrenze. Die Eingriffsstärke ist am linken Lenkstummel in acht Stufen während der Fahrt einstellbar.

Wheelie Control:

BMWs Superbike weiß anhand der Raddrehzahlen, ob das Fahrzeug gerade wheelt und regelt das aus. Dieser Vorgang ist allerdings recht grob. Im „Slick“-Setting beschwerte sich Fastbike-Kollege Dirk Schnieders zum Beispiel, dass die BMW nach den fünf erlaubten Wheelie-Sekunden das Vorderrad etwas unsanft wieder auf den Asphalt knallt. Aprilia verwendet stattdessen eine dreistufig einstellbare, abschaltbare „Wheelie Control“, die den Längsbeschleunigungssensor verwendet, um Wheelies sanft abzusetzen. Natürlich kann die RSV4 damit nicht wissen, ob der Fahrer jetzt weiter vorne oder hinten sitzt, daher wird der Wheelie unterschiedlich hoch, doch auch dieses System regelt — zumindest bei meinen lulligen Gaswheelies — bemerkenswert sanft und angenehm.

Launch Control:

An der Ampel gegen eine Kardan-GS abgestunken? Vielleicht hilft diese Technik. Ein perfekter Start ist schwierig, weil für die maximale Beschleunigung das Rad ganz knapp auf oder über dem Boden bleiben muss. Auf den ersten Metern regelt der Fahrer üblicherweise also Kupplung, Drehzahl, Gewicht und Gasgriffstellung gegeneinander aus für einen perfekten Start. Der passiert jedoch oft nicht, sodass selbst Rennfahrer immer wieder Starts üben. Aprilias Launch Control nimmt das Wheelen am Gas und das Einregeln des Motors am Anfang aus der Gleichung: Launch Control einschalten, Gasgriff auf Anschlag drehen. Der Motor regelt sich dann je nach Setting (3 gibts) bei 10000 oder 11000/min ein. Dann einfach Kupplung kommen lassen und gut festhalten. Bei mehr als 160 km/h oder im dritten Gang schaltet sich die Launch Control ab. Ich fahre ja manchmal Messwerte inklusive Beschleunigung und habe daher das Gefühl, ohne ist man schneller.

Aprilia sagt, man spart ohne die Launch Control im schnellsten Setting nur ein Zehntel auf 100 km/h, verliert aber die Konsistenz. Fakt ist, dass man dieses System erlernen muss. Von drei Starts habe ich zum Beispiel zwei verkackt: das Rad ging hoch, der Motor muss stark abregeln, die Zeit ist Murks. Zu langsam einkuppeln macht jedoch auch zu langsam. Die Launch Control ist definitiv kein Sicherheitshilfssystem, sondern ein zu erlernendes Tool für die Rennstrecke — oder für die Ampel mit der Kardan-GS.

Quality Control:

Ja, Aprilia ist seit der Piaggio-Übernahme ein Graus für deutsche Fahrer. Zu unzuverlässig sind ihre Maschinen, zu eigen, zu durstig, zu … ja: undeutsch. Mit der neuen Factory werden einige Sachen etwas besser werden, zum Beispiel der Spritverbrauch. Eine BMW oder gar ein japanisches Superbike ist es jedoch nicht. Im Gegenteil hat es Aprilia geschafft, unter Piaggios Dach ein komplett eigenständiges Fahrzeugportfolio zu bauen, was eine ziemlich schwache (Aprilia sagt: „damals tote“) Marke aktuell (für mich) erfrischend wiederbelebt. Schade, dass jeder zwar sagt, er steht auf „individuell“, in Wirklichkeit jedoch damit eine namensbestickte Sitzbank auf seiner Suzuki Bandit meint. Daraus folgend: Schade, dass keiner die RSV4 kauft. Bis auf Toby. Die coole Sau.

Aprilia RSV4 Factory APRC SE 2011

Ist: Ein Playstation-Controller für einen italienischen Erlebnisurlaub.

Kostet: 22.490 Euro

Leistet: 180 PS (132 kW) bei 12.250 U/min

Stemmt: 115 Nm bei 10.000 U/min aus 1000 ccm

Wiegt: 211 kg vollgetankt

Tankt: 17 Liter Super

Hat: alles unter Kontrolle: die Traktion, die Wheelies, die Rennstarts und Tobys Herz bald auch.

 

 

Quelle: Mojomag

Avatar von Mojomag
11
Diesen Artikel teilen:
11 Kommentare: