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40 Jahre Antiblockiersystem (ABS) bei Mercedes - Wie Mercedes das Stottern lernte

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Vor 40 Jahren setzte Mercedes erstmals ein Antiblockiersystem ein. Längst zählt ABS bei allen Neuwagen zur Pflicht. MOTOR-TALK sprach mit den damaligen Entwicklern.

Ohne ABS rutscht die S-Klasse mitten in das Testhindernis hinein, mit ABS lässt sie sich darum herumlenken: Vor 40 Jahren installierte Mercedes die Technik erstmals in einem Stuttgarter Serienmodell Ohne ABS rutscht die S-Klasse mitten in das Testhindernis hinein, mit ABS lässt sie sich darum herumlenken: Vor 40 Jahren installierte Mercedes die Technik erstmals in einem Stuttgarter Serienmodell Quelle: Daimler

Immendingen – Um die Gegenwart verstehen zu können, hilft eine Simulation der Vergangenheit. Mit lautem Schleifen rutscht ein Mercedes 280 SE über seine blockierenden Räder und voll durch eine Schaumstoffwand. Die Blöcke fliegen durch die Luft.

So war das vor 40 Jahren bei einer Vollbremsung. Blockieren die Räder, fährt das Auto geradeaus. Egal, wie stark der Fahrer am Lenkrad dreht. Die alte Mercedes S-Klasse des Typs W116 (1972-1980) macht da keine Ausnahme. Bei einer Vollbremsung auf nassem Untergrund ist der Fahrer nur noch Passagier. 1978 installierte Mercedes erstmals ein Anti-Blockier-System (ABS) in seinem Spitzenmodell. Seitdem können Autofahrer bei durchgetretenem Bremspedal lenken und so in Notsituationen ausweichen.

Dieser W116 ist für solche Tests eigentlich zu schade. Im 450 SEL 6.9 arbeiten ein 6,9-Liter-V8 mit 286 PS – und das erste ABS. Ein kurzer Kickdown, und die Räder drehen im Stand durch. Die Limousine könnte jetzt in 7,8 Sekunden auf 100 km/h beschleunigen und bis zu 225 km/h schnell fahren.

Bei einer Vollbremsung aus 70 km/h auf nasser Fahrbahn bleibt der ABS-W116 rund 1,5 Wagenlängen vor dem gleichen Modell ohne ABS stehen Bei einer Vollbremsung aus 70 km/h auf nasser Fahrbahn bleibt der ABS-W116 rund 1,5 Wagenlängen vor dem gleichen Modell ohne ABS stehen Quelle: Daimler Nach ein paar hundert Metern Beschleunigung kommen jedoch die Pylonen. Durch das Funkgerät erklingt die Stimme des Instruktors: „Vollbremsung“. Mit einem heftigen Tritt folge ich der Anweisung. Das Pedal pulsiert stark, stärker als bei modernen Fahrzeugen. Ich reiße das große Lenkrad nach links und weiche so dem Hindernis rechtzeitig aus.

Der große, alte Benz kippt dabei nur leicht zur Seite. Es drückt mich dennoch an die Tür. Kurz taucht die 1,6 Tonnen schwere Limousine in die Federn ein und wieder aus. Die Schaumstoffblöcke nebenan haben noch nicht mal gewackelt. Nicht nur das: Bei einer Vollbremsung aus 70 km/h auf nasser Fahrbahn bleibt der ABS-W116 rund 1,5 Wagenlängen vor dem gleichen Modell ohne ABS stehen.

Ein Problem der Abstimmung

Bis die Stotterbremse bei Mercedes so zupacken konnte, vergingen ein paar Jahre. Richard Zimmer erinnert sich. „Als ich als Elektroniker Mitte der 1970er-Jahre zu Mercedes kam, wurde ich belächelt. Elektronik galt als uncool. Was zählte, war die reine Mechanik“, sagt der heute 68-jährige Ingenieur, früher verantwortlich für die ABS-Entwicklung. Doch er setzte sich mit seinem Team durch. Die Technik war anfangs teuer. Bei Mercedes gab es sie zuerst nur gegen Aufpreis: 2.294 D-Mark.

„Die Probleme bei der Entwicklung waren nicht nur, das ABS einzubauen und auf das Fahrzeug anzupassen, sondern die Karosserie und das Fahrwerk darauf abzustimmen“, sagt Richard Zimmer. Federn und Dämpfer mussten ebenso neu abgestimmt werden wie Lager, Gummis und Leitungen. „Bei den kurzen Impulsen und Ruckeln schaukelt sonst die Karosserie stark auf, das mussten wir verhindern. Denn es verschlechtert den Komfort und könnte sogar den Bremsweg verlängern“, sagt er. Außerdem musste das neue System in allen Lagen, auf allen Strecken und bei allen Temperaturen funktionieren. Für sein Team bedeutete das monatelanges Testen. Doch mit dem verkürzten Bremsweg konnte Zimmer seine Vorgesetzten überzeugen.

Weiterentwicklungen Richtung ESP

Erfunden hat Mercedes das ABS nicht. Den Namen sicherte sich zuvor Bosch. Das erste Serienauto mit einem mechanischen ABS war der Jenssen FF, das erste Großserienauto mit serienmäßiger Stotterbremse war 1985 der Ford Scorpio.

Mercedes entwickelte die Fahrhilfe weiter. Nach dem ABS im W116 folgte 1985 der W124 mit dem automatischen Sperrdifferenzial ASD, kurze Zeit später die Antriebsschlupfregelung ASR – beides Vorläufer des Schleuderschutzes ESP. Das ASR der S-Klasse W126 bremst bei Traktionsverlust ein Rad am Hinterrad, ein sanfter Schleuderschutz für bessere Traktion. „Schlupf am Rad ist immer schlecht, die Leistung soll ja auf die Straße und nicht in Rauch aufgehen“, sagt Zimmer. In Gefahrensituationen kam so Stabilität und Ruhe ins Auto. Der Weg zum heutigen ESP war aber noch weit.

Es half der Zufall. Zumindest bei Mercedes. Als Frank-Werner Mohn 1989 bei einem Fahrversuch in Schweden im Graben landete, war die Schmach groß. Für einen jungen Ingenieur hochpeinlich. Wochenlang konnte er nachts kaum schlafen. Dann hatte er die Idee: Wenn nur ein Rad abgebremst werden konnte, dann würde sich das Fahrzeug nach dem Kammschen Kreis wieder stabilisieren. Denn der stellt den idealen Zusammenhang zwischen Längs- und Seitenführungskraft am Rad eines Fahrzeuges dar.

1985 debütierte im W124 das automatische Sperrdifferenzial ASD 1985 debütierte im W124 das automatische Sperrdifferenzial ASD Quelle: Daimler Mohn testete und probierte, entwickelte gemeinsam mit Bosch die erste elektronische Stabilitätskontrolle. 1995 kam sie erstmals im S-Coupé CL zum Einsatz. „Als 1997 die A-Klasse beim Elchtest umkippte, war das ESP der Rettungsanker: Es verleiht in harten Brems- und Lenkmanövern dem Auto Stabilität und hindert es am Kippen und Rollen“, sagt Frank-Werner Mohn. Es bremst gezielt ein oder mehrere Räder ab und passt notfalls das Motordrehmoment an.

Unfallvermeidung als neue Priorität

1998 baute Mercedes das ESP in den kleinen Benz ein. Seit 2014 zählt das System zur Pflichtausstattung aller neuzugelassenen Autos. Heute kann die aktuelle A-Klasse mehr als die größere S-Klasse. Das aktuelle Modell bremst bei Gefahrensituationen in der Stadt selbständig oder überholt auf der Autobahn nach einem Blinker-Tipp andere Autos, ohne dass der Fahrer lenken muss. Ohne die Vorentwicklungen ABS und ESP und ihre elektronischen Eingriffe wäre das undenkbar.

Bis Mitte der 2000er war die Devise beim Unfallschutz: Verletzungen verringern, wenn sie bei einem Unfall auftreten. Mittlerweile denkt man in Stuttgart anders. Mit Einführung des Presafe-Systems bei der S-Klasse W220 reduziert Mercedes seit 2002 die Gefahr im Vorfeld. Beim Unfall stellen sich die Lehnen aufrecht, schließen sich die Seitenscheiben und strafft sich der Gurt. Bei der neuen E-Klasse zündet bei einem nicht mehr vermeidbaren Seitenaufprall eine Pyro-Kapsel. Die stößt den Fahrer in die Wagenmitte und damit weiter weg von der Einschlagsstelle. Bis zu 25 Prozent weniger Rippenverletzungen soll das bringen.

Doch warum eigentlich immer erst auf Unfälle reagieren? Die neue Sensorik kann einen Unfall rechtzeitig vorhersagen. Künftig kann sich Mercedes weitere, vorausdenkende Assistenten vorstellen. Innerhalb von 125 Millisekunden schärfen sich heute Gurtstraffer mit bis zu 140 Newtonmeter. Dem Fahrer fällt das nicht auf. Bei einem Zusammenstoß und Einschlag auf den Vordermann straffen die Gurte mit rund 3.000 Newtonmeter.

Künftig könnte auch der Airbag schon vor dem eigentlichen Einschlag zünden. Das könnte mit etwas mehr Zeit sanfter geschehen, Autofahrer würden sich weniger verletzen. Oder das am Stauende stehende Auto überwacht den herannahenden Verkehr und fährt bei einem drohenden Auffahrunfall ein paar Meter vor, wenn Platz ist.

Auch die besten Sensoren können nicht alle Unfälle vermeiden, da sind sich die Ingenieure sicher. Aber sie können die Energie des Aufpralls verringern und Leben retten. Genau wie vor 40 Jahren.

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