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Goify's Blog

Mobilität heute und andere Absurditäten

Sun Jan 01 22:22:07 CET 2012    |    Goify    |    Kommentare (48)    |   Stichworte: 190er, Auto, Mercedes, Ushido, W201


Hallo liebe Motor-Talker,
von mir soll es mal wieder was zu hören geben und zwar aus gegebenen Anlass: Die ersten Modelle des Mercedes W201, besser bekannt als 190er oder Baby-Benz werden dieses Jahr ein H-Kennzeichen erhalten können. Also wenn ihr die Premiere damals live miterlebt habt, ist das ein untrügliches Zeichen dafür, dass ihr nicht mehr zu den Jüngsten gehört.

Entwicklung
Also mal der Reihe nach. Die ersten Überlegungen, einen kleinen Mercedes auf die Räder zu stellen, entstehen in den 30er Jahren und werden aber immer wieder verworfen. Zusammenfassend bis in die frühen 70er kann man sagen, dass die Wagen wie verkleinerte große Mercedes wirkten und so eher lächerlich waren. Bruno Sacco, welchem mittlerweile die Leitung der Hauptabteilung Stilistik übertragen wurde, ist es anzurechnen, dass er um 1975 die Reißleine zog und seinen Mitarbeitern eine längere Denkpause in Sachen Gestaltung erteilte.
Diese ungewöhnliche Maßnahme hatte Erfolg, denn 1978 stellt Peter Pfeiffer einen Entwurf vor, welcher komplett eigenständige Züge zeigt und seine Designelemente für die nächsten Jahrzehnte Mercedes maßgeblich prägen werden, auch wenn nicht alle im W201 sofort umgesetzt werden. Neu waren der unscheinbare Knick, welcher im Dach beginnt, über die Heckscheibe bis zum Heckdeckel verläuft, die gemeinhin Sacco-Bretter genannten seitlichen Kunststoffbeplankungen oder der Plakettenkühlergrill, wie wir ihn erstmals bei der 1991 debütierenden S-Klasse finden werden. So steht zumindest die äußere Gestalt, aber es soll auch unter dem Blech Neuerungen geben.

Denn die erste Ölkrise 1973 und die Anforderungen von der US-Regierung mit ihrer Flottenverbrauchsgesetzgebung führen dazu, dass man nicht nur einen kleineren Mercedes entwickeln muss, sondern auch einen, welcher im Vergleich zur damaligen Mittelklassebaureihe W123 um rund 280 kg leichter werden soll, um die neuen Verbrauchsziele einzuhalten.
Aber nicht nur durch Gewichtseinsparungen erhoffte man sich eine Treibstoffersparnis, sondern auch durch den für damalige Verhältnisse sehr guten cw-Wert von 0,33. Der Audi 100 C3 hatte zwar damals schon einen Wert von 0,30, war jedoch länger, was es etwas einfacher machte.
Ein Frontantriebskonzept wurde verworfen, da es nicht lösbar erschien, einen Wagen befriedigend abzustimmen, bei welchem Antrieb und Lenkung an einer Achse stattfinden sollten. Also wurde am bestehenden Standardantrieb mit Motor vorne und Antrieb hinten festgehalten, mit der Konsequenz daraus, die Hinterachse neu erfinden zu müssen, um die Erfordernisse an Agilität, Komfort und Sicherheit zu erfüllen. So wurden im Laufe der Entwicklung sage und schreibe 8 völlig neue Konzepte in bis zu 77 Varianten erprobt, bei der sich die Variante mit 5 Lenkern je Rad als ideal herauskristallisierte. Die Raumlenkerachse war geboren, ohne die noch heute kein Mercedes-PKW mit Hinterradantrieb die Werkshallen verlässt.
Auch ein Novum war der Einarmwischer, welcher schon kurze Zeit später um eine Hubmechanik erweitert wurde und so 86 % des Sichtfeldes wischen konnte. Er entfiel erst wieder mit der Premiere des W203 im Jahre 2000, wahrscheinlich aufgrund schlechter Kritiken aus der Presse, die ich nur teilweise nachvollziehen kann und weil Windschutzscheiben heute nicht mehr ein Längenverhältnis von 2:1 haben.

Dass man mit ihm auch jüngere Käuferschichten ansprechen wollte, liegt auf der Hand, da sich zur damaligen Zeit abzeichnete, dass ein dauerhafter Erfolg der Marke Mercedes-Benz nur gelingen könne, wenn auch ein Einsteiger-Modell im Sortiment sei, was nicht nur neue Kunden anlocken, sondern als erhebliches Standbein dienen sollte.
Außerdem war BMW mit dem damaligen E21 sehr erfolgreich und der E30 stand schon in den Startlöchern

So fuhren dann Ende der 70er und Anfang der 80er diverse mehr oder weniger stark getarnte Modelle durchs Land auf Erprobungsfahrt, um die letzten Mängel aufzudecken. Als Tarnung wurde statt der üblichen Typbezeichnung, der Modellname Ushido auf den Heckdeckel geklebt, in der Hoffnung, allzu neugierige Journalisten würden an einen asiatischen Erlkönig glauben.

Verkauf
Am 8. Dezember 1982 rollte er dann endlich zu den Händlern und obwohl das Interesse recht groß war, lief der Verkauf anfangs etwas träge an, denn zu groß ist er Schock, einen Mercedes zu sehen, der außer am Kühlergrill keinerlei Chrom zeigt. Weg vom Barock, hin zur Moderne.
Ein weiteres Handicap war wohl auch der Preis, kostete er doch anfänglich als Mercedes 190 mit 90 Vergaser-PS stattliche 25.538 D-Mark. Zum Vergleich, der einen Monat eher erschienene 3er BMW E30 kostete viertürig als 316 mit ebenfalls 90 PS 20.100 DM. Also hätte man für das Geld, was der 190er kostete, schon einen 320er BMW mit sahnigem Sechszylinder bekommen. Dazu kam noch, dass wirklich alles extra kostete, ein rechter Außenspiegel 153 Mark, ein Schloss für das Handschuhfach 23 Mark oder eine Servolenkung für 819 D-Mark. Aber es gab auch Dinge, die man in dieser Form bei keinem Konkurrenten kaufen konnte, nämlich ein Antiblockiersystem für wahnwitzige 2.712 DM oder einen Fahrerairbag für 1.763 DM. Aber man sah, es gab in jedem Mercedes die in etwa gleichen Sicherheitsdetails und -standards. So verwundert es auch nicht, dass der kleine W201 nahezu die gleiche passive Sicherheit bot, wie die damalige S-Klasse W126. Jedoch war das wohl nicht jedem potentiellen Kunden so wichtig.

Aber die Stärken wie Mercedes-Sicherheit, Mercedes-Komfort oder Mercedes-Qualität sprachen sich schnell herum, sodass er sich bis Erscheinen des Nachfolgers W202 1993 gut 1,8 Mio. mal verkaufte. Aber bis dahin war ein langer Weg, in welchem es auch zu einigen Veränderungen kam, beispielsweise wurden 1988 bessere Sitze verbaut, die Seiten mit den oben angesprochenen Sacco-Brettern verkleidet oder vorne in der Höhe einstellbare Gurte eingebaut.
So wurde er während seiner gesamten Bauzeit stets modern gehalten und regelmäßig überarbeitet um nicht den Anschluss zu verlieren, jedoch war es wohl eher anders herum, denn das hohe Heck, was anfänglich noch argwöhnig beäugt wurde, diente fortan auch für viele Mitbewerber als Vorbild, beispielsweise dem 1990 erschienenen BMW E36.

Heute
Ja und heute? Heute steigt das Interesse stetig an für den kleinen Mercedes. 2006 wurde er als neuer Typ in den vdh (Verein deutscher Heckflossenfreunde, wohl größte Mercedes-Freunde-Vereinigung) aufgenommen, wodurch er sozusagen mit Ersatzteilkatalogen und vielen nicht mehr erhältlichen Teilen versorgt wird. Zudem kann man seit einiger Zeit deutlich ansteigende Preise für gute Exemplare feststellen, was wohl ein untrügliches Zeichen für seine Beliebtheit darstellt.

Eigene Erfahrung
Mich persönlich verbindet viel mit diesem Wagen, war es doch das erste im Westen gekaufte Auto von meinem Großvater oder der erste und bislang letzte Mercedes meiner Eltern. Ich kann mich noch ganz genau erinnern, wie die ganze Familie zur Mercedes-Niederlassung kam um eine Probefahrt mit dem Wagen zu unternehmen. Diese verlief dann zur vollsten Zufriedenheit, sodass sich meine Eltern den damals 7 Jahre alten 190 E kauften und wir fortan sehr bequem unterwegs waren.
Kurz nachdem ich meinen Führerschein hatte, durfte ich endlich auch mal selbst fahren. Ein unbeschreibliches Gefühl hinter dem sehr großen Lenkrad mit fast ausgestreckten Beinen zu sitzen und dem Stern zu folgen.

Was haltet ihr vom 190er und möchtet ihr weitere, etwas aufwändiger recherchierte Artikel, über Fahrzeuge lesen, die dieses Jahr ein H erhalten können? Mein Anliegen ist es, beginnende Klassiker ein wenig näher zu beleuchten. Denn seid ehrlich, jeder von euch kennt den 190er, gestern sah man ihn doch noch an jeder Ecke, aber irgendwie scheint er heute langsam selten zu werden.

Videolink zur Entwicklung

Quellen:
baureihe201.de
mercedes-seite.de
mercedesgarage.at


Ergänzung von Goify am Tue Jan 03 12:16:12 CET 2012

Habe gerade noch ganz interessante Bilder zum Ushido gefunden. Klick

Tue Feb 14 13:10:37 CET 2012    |    Esprit ATP Tour

w201 war eins der zuverlässigsten Wagen überhaupt. Weltweit.

Sat Feb 25 08:20:46 CET 2012    |    Fensterheber38808

Auch ich kann dir für den Artikel nur ein großes Lob aussprechen. Schön zu lesen mit wesentlichen Infos.:)

Auch wenn der Wagen heute nicht mehr den vollen Komfort bieten kann, muss ich dennoch sagen, dass er sich mit einigen heutigen Autos durchaus noch messen kann.

Wer noch nach ähnlichen Artikeln zu Mercedes Youngtimern sucht, dem könnte ich vielleicht meine Blogseite empfehlen, wo es etwas über W123, W126 und W140 zu lesen gibt. Einfach mal reinschauen...

Schönes Wochenende an alle!
Der Daimlerfahrer

Sat May 05 10:56:56 CEST 2012    |    Trackback

Kommentiert auf: italeri1947 - Hans’ Hitparade von Autos, die keiner wollte:

Der 190er - der Dauerhafte.

[...] Der 190er ist ein Dauerbrenner, dem ich auch schon einen ausführlichen Artikel gewidmet hatte.
Wie viele wissen, hatten meine Eltern und auch Großeltern einen W201. Beides sehr langlebige [...]

Artikel lesen ...

Mon Jul 02 22:30:28 CEST 2012    |    Trackback

Kommentiert auf: Andi2011 Mein C MAX MK2:

DIES & DAS - Raritäten aus der Garage Teil 4: Der Baby-Benz W201

[...] hast recht, er ist weder ein altes Auto, noch ein junger Gebrauchswagen, also nur was für Liebhaber.
In meinem Blog gibt es zu diesem Modell ausführliche Informationen.
[...]

Artikel lesen ...

Tue Jul 03 02:42:41 CEST 2012    |    Faltenbalg4054

Mein erstes Auto!

190 E vorMopf mit EZ 10/88 und für einen 201er extrem guter Ausstattung. Klima, Automatik, ABS, ZV, Umluft mit Pollenfilter, Überblendregler, automatischer Antenne, vier Lautsprecher, Außenspiegel rechts elektrisch, Armauflage vorn um die wichtigsten Dinge zu nennen.

Mir hat der Wagen immer sehr viel Spaß gemacht und ich trauer dem Auto immer noch hinterher, auch wenn ich schon viele MB´s hatte, das erste Auto bleibt wie die erste Liebe unvergessen.
Leider ist er einem unverschuldeten Unfall zum Opfer gefallen, aber da hat die Konstruktion ihre Vorzüge deutlich aufzeigen können. Das ist aber auch schon fast 14 Jahre her.

Gern würde ich mir wieder so einen 190er anschaffen, dann aber nur noch als Hobby und nicht mehr für den Alltag. Nur glaube ich kaum, dass ich jemals wieder einen so gut Ausgestatteten vorMopf 190er finden werde.

Das Auto hat mich halt geprägt, mein Vater war einer der Erstbesteller und hatte danach noch 1 weiteren Neu- sowie 5 Jahreswagen der BR W201. Mir war schon recht früh klar, dieses Auto hast Du als ersten Wagen. Der W201 ist toll. Für mich auch eine sehr prägende Verbindung zur Marke, ich mag die Marke und fahre sie gern - aktuell den Enkel des 201, einen 203. Übrigens auch ein vorMopf Modell das ein paar Wochen vor der Modellpflege vom Band gerollt ist wie mein 190er...

Tue Jul 03 08:17:22 CEST 2012    |    VolkerIZ

Den 190er habe ich nur mal kurz gefahren, aber in einer der stressigsten Zeiten überhaupt, in weniger als 2 Jahren fast 35.000km. Danach mußte er ganz schnell wieder weg. War noch einer ohne Kat und mein Versicherungsvertrag war auch noch nicht so günstig wie heute und so war das eben ziemlich viel Geld für ein ziemlich kleines Auto.
Aber ein gutes. Auch wenn er bei Menschen von meiner Mächtigkeit und Bedeutung etwas unter den Achseln und im Schritt drückte (Der gleich große Passat oder Audi 80 ist trotz schlechterer Sitze für mich deutlich bequemer). Trotzdem würde ich wieder einen kaufen, wenn ich mal wieder viel zu fahren hätte. Vor allem, seit man sogar den Diesel auf grüne Plakette umrüsten kann.

Tue Jul 03 08:19:13 CEST 2012    |    Goify

Schöne Geschichte, E. D. In sentimentalen Schüben in Erinnerung an den elterlichen 190er lege ich eine Peter Gabriel Kassette ein und träume ein wenig von dem Wagen, da diese in ihm oft lief.

Fri Jul 20 11:24:05 CEST 2012    |    Achsmanschette21590

Wow was für ein ausführlicher Artikel!
Ich würde gerne mehr davon in der Art lesen!

Wed Jan 22 21:42:23 CET 2014    |    Trackback

Kommentiert auf: MB Dieselmaster:

BENZ-FRIENDS -- DIE "SCHNACKBAR"

[...] Wo du davor Ushido angesprochen hast... Hier der beste Artikel, den ich dazu kenne... :)
[...]

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Deine Antwort auf "Ushido - oder wie Mercedes in der Kompaktklasse Fuß fasste"

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Goify Goify

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