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GM-Zündschloss schuld am Tod des Verlobten - Das Drama der Candice Anderson

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Wegen defekter GM-Zündschlösser gab es bisher mindestens 35 Tote. Einer von ihnen war Gene Erickson. Doch die Schuld trug nicht GM, sondern seine Verlobte Candice. Zehn Jahre lang – bis jetzt.

Houston – Das Drama in Candice Andersons Leben nahm am Montag, dem 15. November 2004 seinen Lauf. An diesem Tag kommt ihr Verlobter und Vater ihrer zwei Kinder Gene Mikale Erickson bei einem Autounfall ums Leben. Später übernimmt Candice vor Gericht die Verantwortung. Aus gerichtlichem und sozialem Druck, aus Unwissen und vielleicht auch, weil sie irgendwann selbst an die eigene Schuld glaubte. Am vergangenen Montag, zehn Jahre, eine Woche und zwei Tage später, sprach sie ein texanischer Richter von dieser Schuld frei.

Was geschah

Es ist der 15. November 2004 nahe einer Kleinstadt in Texas. Irgendwann an diesem Tag erlässt die Regierung von Bhutan ein Verbot von Tabakwaren, US-Außenminister Colin Powell gibt seinen Rücktritt bekannt und fünf Weltstädte bewerben sich als Austragungsort für die Olympischen Sommerspiele 2012. Für Candice Anderson und Gene Erickson hat das Weltgeschehen an diesem Tag keine Bedeutung. Das Ereignis, das Candices Leben verändert und Genes beendet, trägt sich auf einer verschlafenen Landstraße 70 Meilen östlich von Dallas zu.

Saturn Ion von 2004: Ein Auto, wie es Candice Anderson und ihr Verlobter besaßen Saturn Ion von 2004: Ein Auto, wie es Candice Anderson und ihr Verlobter besaßen Quelle: General Motors Die damals 21-Jährige und ihr Verlobter fahren in ihrem Saturn Ion, als Candice aus zunächst ungeklärter Ursache die Kontrolle über das Fahrzeug verliert. Der Saturn prallt gegen einen Baum, die Airbags bleiben stumm. Candice verletzt sich schwer, als sie durch die Scheibe geschleudert wird. Ihre Leber reißt. Der 25-jährige Gene Erickson stirbt am Unfallort. Beide waren nicht angeschnallt.

Es gibt im Internet ein Bild aus der Zeit vor dem Unfall, auf dem Candice neben ihrem neuen Ion steht. Sie trägt einen zu großen Adidas-Pullover, wie das damals modern war. Sie strahlt in die Kamera, wie jedes Mädchen, das sich seinen Autotraum erfüllt. Und es gibt ein Bild des Wracks. Blut klebt auf der Motorhaube, die Windschutzscheibe ist zerstört.

Vorurteile, Unwissen, Wissen, Schweigen

Ein Polizist untersuchte damals die Unfallstelle. Reifenspuren, die auf eine Vollbremsung hinweisen, oder andere Anzeichen für ein Ausweichmanöver fand er nicht. Deswegen, und weil Candice sich orientierungslos und aufgewühlt verhalten habe, vermutete er eine Fahrt unter Drogen. Es wird eine Restmenge des angstlösenden Medikaments Xanax im Blut von Candice Anderson gefunden. Nichts Dramatisches.

Wenig später erhebt ein Geschworenengericht Anklage wegen „fahrlässigem Totschlag mit einem Fahrzeug unter Alkohol- oder Drogeneinfluss“. Wenn jemand ohne erkennbare äußere Einflüsse die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert, dann müssen es eben Drogen gewesen sein.

Was sich auf Deutsch einfach nur sperrig anhört, klingt auf Englisch nach brutalem Splattervideo. Bei „Intoxication Manslaughter“ handelt es sich um einen Tatbestand, den es nur in Texas gibt und bei dem die Verteidigung als äußerst schwierig gilt. Im Oktober 2007 bekennt sich Candice mehr oder weniger freiwillig des „fahrlässigen Totschlags“ (negligent homicide) für schuldig, um Schlimmeres zu verhindern. Manchmal hilft das Schuldeingeständnis, die auferlegten Strafen abzumildern. Die gefühlte Schuld lindert es nie.

General Motors hat mittlerweile eingestanden, dass es 35 Tote in Verbindung mit den defekten Zündschlössern gab General Motors hat mittlerweile eingestanden, dass es 35 Tote in Verbindung mit den defekten Zündschlössern gab Quelle: dpa/Picture Alliance Dass die Zündschlösser beim 2004er Saturn Ion, wie Candice ihn fuhr, in die Aus-Position springen können, Airbags, Bremskraftverstärker und Servolenkung daraufhin ausfallen, wussten damals weder Candice noch der Polizist oder der Richter. Aber der Hersteller General Motors.

Zehn Jahre Kampf

Bereits im Mai 2007 hatte General Motors in einer internen Untersuchung des Unfalls herausgefunden, dass ein defektes Zündschloss schuld am Unfall war. Mitgeteilt wurde das niemandem. Nicht Candice Anderson und auch nicht den gerichtlichen Instanzen.

Für Candice folgte ein jahrelanger Kampf. Mit mehr als 10.000 Dollar Straf- und Entschädigungszahlungen, 260 Stunden gemeinnütziger Arbeit, einer fünfjährigen Bewährungsstrafe und vor allem vielen Problemen im beruflichen und privaten Leben.

Um ihre Ausbildung zur Krankenschwester abzuschließen, musste sie sich einer psychiatrischen Untersuchung unterziehen. Doch auch mit offiziellem Abschluss stellt in den USA niemand eine verurteilte, „fahrlässig handelnde“ Krankenschwester ein.

Wie viele böse Blicke Candice Anderson in einer texanischen Kleinstadt ertragen musste, in der jeder jeden kennt, bleibt ihr trauriges Geheimnis.

Die Kongressabgeordnete Diana DeGette und ein GM-Zündschloss. GM-Chefin Mary Barra musste sich im April vor dem US-Kongress verantworten Die Kongressabgeordnete Diana DeGette und ein GM-Zündschloss. GM-Chefin Mary Barra musste sich im April vor dem US-Kongress verantworten Quelle: dpa/Picture Alliance

GM nimmt die Schuld (endlich) auf sich

Letztlich war es wohl Rhonda Ericksons Verdienst, dass Candice Anderson in dieser Woche endlich freigesprochen wurde. Den Tod ihres Sohnes verkraftete die Mutter nie. Als sie von den GM-Rückrufen erfährt, kontaktiert sie im Mai 2014 die US-Verkehrsbehörde NHTSA, um zu erfahren, ob auch der Saturn ihres Sohnes zu den betroffenen Autos gehört.

Er tut es. Und nicht nur das: Die Verkehrsbehörde führt Gene Erickson sogar unter den bereits bestätigten Toten im Zusammenhang mit den fehlerhaften Teilen. Candice Anderson beantragte daraufhin die Annullierung ihres Urteils.

Bisher keine persönliche Meldung von GM

Nach der zugehörigen finalen Anhörung am vergangenen Montag besuchten Candice Anderson, die Kinder und Rhonda Erickson zum ersten Mal gemeinsam das Grab von Mann, Vater und Sohn Gene. Als wäre es ein Omen für das, was passieren sollte, wurde die Grabplatte für Gene erst in der Woche zuvor angebracht. Vorher hatte es seine Mutter nicht fertig gebracht, eine für ihren einzigen Sohn zu kaufen.

Nur wenige Stunden zuvor und in letzter Minute hatte Candice Andersons Anwalt eine E-Mail von General Motors erhalten, in der der Autobauer ein defektes Zündschloss als Ursache für den Unfall einräumt. Candice Anderson wurde daraufhin von ihrer Schuld freigesprochen. Bis heute hat sie keine persönliche Entschuldigung von General Motors erhalten.

Candice sagt, dass sie die Geschichte eines Tages ihren Töchtern erzählen wird: „Mein Herz ist entlastet, jetzt wo ich ihnen sagen kann: Das ist passiert, es war dieses schreckliche Teil. Und es war nicht Mamis Schuld“.

Quelle: New York Times, CNN, CBS, Detroit News

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