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Verkehrssicherheit: Acht Fragen an Siegfried Brockmann (UDV) - Der Unfallexperte fährt ohne Totwinkelwarner

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Sind unsere Autos zu alt? Was nutzt eine Helmpflicht für Radfahrer? MOTOR-TALK stellt acht Fragen an Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer.

Siegfried Brockmann (56) leitet seit 2006 die Unfallforschung der Versicherer. Von 1986 bis 1997 war er in den Verkehrsverwaltungen der Bundesländer Berlin und Brandenburg tätig Siegfried Brockmann (56) leitet seit 2006 die Unfallforschung der Versicherer. Von 1986 bis 1997 war er in den Verkehrsverwaltungen der Bundesländer Berlin und Brandenburg tätig Quelle: dpa/Picture Alliance & UDV

Berlin - Ist der Platz hinten rechts im Auto der sicherste? Nein, sagt die Unfallforschung der Versicherer (UDV): Hinten sitzt man generell riskanter als vorn. Warum das so ist, erklärt uns der Leiter der Organisation. Wir sprachen mit Siegfried Brockmann (56) über aktuelle Verkehrssicherheitsthemen, wie sie auch der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) in den vergangenen Tagen in Berlin diskutierte.

MOTOR-TALK: Herr Brockmann, Sie haben kürzlich Erkenntnisse vorgestellt, wonach Pkw-Insassen auf der Rückbank gefährlicher fahren als vorn. Sehen Sie hier Potenzial, die Zahl der Verkehrsopfer deutlich zu senken?

Siegfried Brockmann: Nur 10 Prozent der im Auto Verletzten und Getöteten saßen hinten. Trotzdem sind die hinteren Insassen besonders gefährdet. Zum einen gibt es hinten weniger Schutzsysteme, zum anderen sitzen die Insassen gefährlicher, klemmen den Gurt unter den Arm oder schnallen sich nicht an. Da hilft nur bessere Aufklärung. Gurtkraftbegrenzer und Gurtstraffer hinten müssen trotzdem kommen, und zwar möglichst rasch

Der Totwinkelwarner: Viele Autofahrer nutzen vorhandene Assistenzsysteme kaum oder schalten sie sogar aus Der Totwinkelwarner: Viele Autofahrer nutzen vorhandene Assistenzsysteme kaum oder schalten sie sogar aus Quelle: dpa/Picture Alliance MT: Das Durchschnittsalter deutscher Pkw steigt, beträgt derzeit neun Jahre. Geht damit ein Sicherheitsrisiko einher, weil ältere Autos über weniger Sicherheitssysteme verfügen?

Brockmann: Diese Betrachtung halte ich für eindimensional. Ja, moderne Autos sind in der Regel sicherer. Das heißt aber nicht, dass mit neuen Autos alle Unfälle der alten Autos weg wären. Die meisten dieser Autos gehören jungen Fahrern, und das ist die Hauptrisikogruppe im Straßenverkehr. Wenn ich einem jungen Hochrisikofahrer sein 10 Jahre altes Auto wegnehme und ein zwei Jahre altes Auto gebe, ist er immer noch ein Hochrisikofahrer.

"Manche Lkw-Fahrer fahren offenbar gern dicht auf"

MT: Umfragen zeigen, dass viele Besitzer neuerer Fahrzeuge vorhandene Assistenzsysteme kaum nutzen. Wie könnte man dem begegnen?

Brockmann: Durch bessere Assistenzsysteme. Ich schalte meinen Totwinkelwarner in der Stadt auch aus, denn er produziert zu viel Unsinn. Um ihn auf der Autobahn wieder zu aktivieren, müsste ich ins dritte Untermenü – das ist nicht komfortabel. Das muss besser werden. Der Autofahrer wird am Ende alles akzeptieren, was einen Zusatznutzen bringt, nicht stört und nicht nervt. Ausnahmen sind Abstandsradar und Notbremsassistent beim Lkw. Die werden häufig bewusst ausgeschaltet, weil manche Lkw-Fahrer offenbar gern dicht auffahren. Das sollte man grundsätzlich nicht ausschalten können.

MT: Der Anteil der Pkw-Insassen an den Unfalltoten sinkt, der Anteil anderer Verkehrsteilnehmer an dieser Zahl steigt. Kann und sollte die Politik auf diese Entwicklung reagieren?

Brockmann: Ein Hauptgrund dafür ist, dass Pkw technisch sicherer geworden sind. Damit sinkt die Zahl der in Fahrzeugen Getöteten, und andere Verkehrsteilnehmer geraten stärker in den Fokus. Dass Autos ihre Insassen besser schützen bedeutet aber nicht, dass sie jetzt „die Guten“ sind. Von ihnen geht unverändert die größte Gefahr im Straßenverkehr aus. Hier kann die Industrie noch vieles tun. Bei der Erkennung der sogenannten ungeschützten Verkehrsteilnehmer und bei der Optimierung von Warnungen und Notbremseingriffen.

" ... dann müssten die Radfahrer tatsächlich bei Rot stehen bleiben"

MT: Der VDI diskutierte dieser Tage in Berlin zum Beispiel eine Helmpflicht für Pedelec-Fahrer und seitliche Blinker für Lastzüge …

Brockmann: Diese seitlichen Blinker werden ja kommen. Das ist begrüßenswert, denn Abbiegeunfälle zwischen Lkw und Radfahrern sind oft sehr schwere Unfälle. Allerdings muss dann der Radfahrer auch mal anhalten, wenn er eigentlich Vorfahrt hat.

Das Thema Helmpflicht sehe ich kritisch. Denn eine Pflicht müsste kontrolliert werden, und dann sind Sie kein Stück weiter: Am Ende geht es nur über Einsicht und Öffentlichkeitsarbeit. Ein Herauslösen von Pedelecs, speziell langsamen Pedelecs bis 25 km/h, gibt es im Gesetz nicht und halte ich nicht für sinnvoll.

Wo sitzt man im Auto am sichersten?Nicht hinten rechts, sondern auf beiden Vordersitzen Wo sitzt man im Auto am sichersten?Nicht hinten rechts, sondern auf beiden Vordersitzen Quelle: dpa/Picture Alliance MT: Wäre ein politisches Programm sinnvoll, um Konfliktzonen im Verkehr baulich zu minimieren? Kreisverkehre wurden in hoher Zahl gebaut. Für andere Verkehrsarten wurde weniger getan.

Brockmann: Wer mehr Radverkehr fordert, muss in die Infrastruktur investieren. Die Konzepte und Regelwerke gibt es, nur fehlt vielen Kommunen das Geld, um zum Beispiel 40 Jahre alte Radwege zu ersetzen. Gerade in der Stadt reicht auch der Platz oft nicht aus. Wenn Sie separate Spuren auf der Straße einrichten wollen, müssen Sie den Autos Platz wegnehmen. Das ist für viele Kommunen schwer durchzusetzen.

Sinnvoll finde ich Ansätze, abbiegenden Autoverkehr und Radfahrer über die Ampelschaltung zu trennen. Da gäbe es viel Potenzial, Unfälle zu vermeiden, aber dann müssten die Radfahrer tatsächlich auch bei Rot stehen bleiben.

Der Schulterblick ist immer noch ein Thema

MT: Die Zahl getöteter Radfahrer steigt, besonders betroffen sind Senioren. Was können Autofahrer tun, um Unfälle zu vermeiden?

Brockmann: Die Zahl der Unfälle scheint nicht proportional, sondern unterproportional mit dem Radverkehr zu wachsen. Trotzdem ist das natürlich unbefriedigend. Autofahrer können zunächst die Straßenverkehrsordnung befolgen: Sich so verhalten, dass sie niemanden gefährden. Das kann auch bedeuten, dass ich mal langsamer fahren muss, als ich dürfte.

Beim Rechtsabbiegen in der Stadt bleibt der Schulterblick zu oft aus. Leider beobachten wir häufig Autofahrer, die von der Geradeaus-Spur rechts abbiegen, wenn die Rechtsabbiegerspur voll ist. Dort kann der Radfahrer sie nicht sehen, und sie können den Radfahrer auch nicht sehen.

MT: Mobiltelefone werden meist als Sicherheitsrisiko diskutiert. Bieten sie nicht auch Potenzial zur Unfallvermeidung? Zum Beispiel könnten Fußgänger damit ihre Position an Assistenzsysteme von Pkw senden.

Brockmann: Auf dem Gebiet „Car to X“ wird ja geforscht. Ob die relativ simple Ortungstechnik von Smartphones dafür ausreicht, ist eine Frage, die die Industrie beantworten muss. So ein System wäre auf jeden Fall sinnvoll, wenn es funktioniert. Wenn es ständige Fehlalarme produziert, schadet es dagegen eher.

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