• Online: 3.394

VDI-Tagung zur Verkehrssicherheit - Wie wichtig sind Menschenleben?

verfasst am

Bis 2020 will die EU die Zahl der Verkehrstoten gegenüber 2010 halbieren. 200 in Berlin tagende Ingenieure kommen nun zu dem Schluss: Nur mit Technik wird das nichts.

Deutschland akzeptiere im Straßenverkehr jeden Monat „Opferzahlen in der Größenordnung eines Airbus“, sagt ein Referent auf der VDI-Tagung zur Fahrzeugsicherheit in Berlin Deutschland akzeptiere im Straßenverkehr jeden Monat „Opferzahlen in der Größenordnung eines Airbus“, sagt ein Referent auf der VDI-Tagung zur Fahrzeugsicherheit in Berlin Quelle: dpa/Picture Alliance

Berlin – Wenn 200 Ingenieure drei Tage lang die Frage umtreibt: Wie können wir in den nächsten fünf Jahren die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland und Europa deutlich senken? - dann stoßen sie immer wieder auf ein Kernproblem. Verkehrssicherheit ist nicht sexy.

Zwar möchte jeder Mensch am Ende des Tages heil nach Hause kommen, egal ob er mit dem Auto, einem Lkw oder zu Fuß unterwegs ist. Dennoch finden die meisten die Entlassung eines Bundesligatrainers spannender als das diffuse Thema Sicherheit im Straßenverkehr.

Europa beschloss im Jahr 2000: Im Jahr 2050 soll niemand mehr im Straßenverkehr sterben. 2020 soll die Zahl der Verkehrstoten nur noch halb so hoch sein wie 2010. In Berlin stellt der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) auf seiner nach eigenem Bekunden "größten Konferenz zum Thema Verkehrssicherheit" nun die Frage: „Sind wir auf dem richtigen Weg“? Nein, sagen die Techniker. Die Verkehrsopfer-Zahl sinke nicht schnell genug. Die Zahl getöteter Radfahrer, Fußgänger und Motorradfahrer steige sogar.

Neue Technologie "nicht der Hauptweg"

Nicht jeder Unfall lässt sich vermeiden. Daher erforschen Ingenieure der Fahrzeugbranche derzeit, wie ein automatischer "Post-Crash"-Bremsvorgang Unfallfolgen mildern kann Nicht jeder Unfall lässt sich vermeiden. Daher erforschen Ingenieure der Fahrzeugbranche derzeit, wie ein automatischer "Post-Crash"-Bremsvorgang Unfallfolgen mildern kann Quelle: dpa/Picture Alliance

Jahrzehntelang verließ man sich beim Thema Verkehrssicherheit auf die Ingenieure. Mit Erfolg, denn technische Innovationen wie Sicherheitsgurte, Airbags, ABS oder ESP trugen viel dazu bei, dass die Zahl der Verkehrsopfer seit Anfang der 1970er um etwa 84 Prozent schrumpfte.

Soll jedoch das „Ziel 2020“ erreicht werden, könne neue Technologie im Fahrzeug nicht der Hauptweg sein, sagt Rodolfo Schöneburg von Daimler. Zu wenig Menschen leisten sich die neueste Technik seiner Ingenieurskollegen im eigenen Fahrzeug. Die Flotte erneuert sich zu langsam, das Durchschnittsalter deutscher Pkw beträgt derzeit neun Jahre und steigt.

Zwar erhöhte sich der Anteil von Pkw mit ESP in Deutschland von 36 Prozent im Jahr 2008 auf 68 Prozent im Jahr 2014. Und das, obwohl die Technik erst seit September 2014 für alle Neuwagen vorgeschrieben ist. Doch laut Prognosen von Sicherheitsexperten wird 2020 erst jeder fünfte Neuwagen über ein Notbremssystem verfügen.

Senioren sind Risikogruppe

Bis komplizierte technische Lösungen Wirkung zeigen, dauert es also. Dabei wäre es so einfach. 60 Prozent der im Pkw Getöteten saßen in einem vor 2001 gebauten Auto, sagt der Mercedes-Ingenieur Michael Fehring. Der Anteil dieser Autos an der Flotte betrage aber nur 25 Prozent.

Das Risiko, in einem maximal fünf Jahre alten Auto zu sterben, sei dagegen statistisch gesehen 72 Prozent geringer. Würde man also 16 Millionen Fahrzeuge der Baujahre 1990 bis 2004 durch Neuwagen ersetzen, könnten in Deutschland bis zu 36 Prozent der bei Unfällen getöteten Pkw-Insassen überleben.

Für kurzfristig besser umsetzbar halten die Experten Maßnahmen, die die Sicherheit „ungeschützter Verkehrsteilnehmer“ wie Fußgänger und Radfahrer erhöhen. Insbesondere die Zahl getöteter Senioren steige überproportional, sagt Klaus Rompe, ehemaliger Leiter des TÜV Rheinland: in 10 Jahren um 10 Prozent.

Wer seine Sichtbarkeit verbessert, fährt sicherer. Jedoch: Die Zahl verunglückter Radfahrer steigt. Besonders gefährdet ist die Altersgruppe ab 65 Jahre Wer seine Sichtbarkeit verbessert, fährt sicherer. Jedoch: Die Zahl verunglückter Radfahrer steigt. Besonders gefährdet ist die Altersgruppe ab 65 Jahre Quelle: dpa/Picture Alliance Das liege natürlich am generellen Zuwachs der Bevölkerungsgruppe und ihrer glücklicherweise steigenden Mobilität. Aber auch daran, dass ältere Menschen einfach „körperlich weniger robust“ seien und damit Unfallfolgen schwerer ausfallen. Schon heute seien 57 Prozent der als Radfahrer getöteten Verkehrsteilnehmer Senioren, bei Fußgängern sind es knapp 50 Prozent. Rompe plädiert daher für spezielle Seniorenangebote: Fahrtrainings, Schulungen zu Fahrassistenten und vor allem Fahrradhelme.

Helmpflicht und Tempolimit für Radfahrer?

Neue Trends beschäftigen die Techniker ebenfalls. „Wir wissen nicht, warum anteilig 10 Prozent mehr Pedelec-Fahrer als Fahrradfahrer sterben“, sagt Jürgen Bönninger von der Fahrzeugsystemdaten GmbH Dresden. Dies könne daran liegen, dass eher ältere Menschen Pedelecs fahren. Oder daran, dass Pedelecs vom Fahrer unterschätzt werden – oder schlicht an der höheren Durchschnittsgeschwindigkeit gegenüber Fahrrädern.

Dennoch fordert Bönninger eine Helmpflicht für Pedelec-Fahrer und wünscht sich mehr Helm tragende Radfahrer. Fast jeder zweite tote Radfahrer sei an einer Kopfverletzung gestorben. Auch ein Tempolimit auf manchen Radwegen („15 km/h auf dem Elbe-Radweg“) hält Bönninger für sinnvoll. Leider sei dies gegenüber der Fahrradlobby nicht durchsetzbar.

Eines wird deutlich im Gewitter der Zahlen, das die neun Referenten in Berlin vortragen: Verkehrssicherheit ist kompliziert. Jeder Verkehrsträger und jede Unfallart sind speziell. Ja, man müsse die Chancen der Radfahrer erhöhen, kritische Situationen mit Lkw zu überstehen, sagt Christian Kohrs von MAN. Jedoch dürfte man den Lkw-Fahrer nicht überfordern, der schon heute sieben Spiegel im Blick haben müsse. „Ob da ein zusätzlicher Monitor die Lösung ist“?

"Opferzahlen in der Größenordnung eines Airbus"

Es gibt nur wenige Ad-hoc-Maßnahmen, die direkt die Sicherheit im Verkehr erhöhen. Eine "Warnwestenpflicht für Fußgänger" wäre kaum durchsetzbar, sagt ein Teilnehmer Es gibt nur wenige Ad-hoc-Maßnahmen, die direkt die Sicherheit im Verkehr erhöhen. Eine "Warnwestenpflicht für Fußgänger" wäre kaum durchsetzbar, sagt ein Teilnehmer Quelle: dpa/Picture Alliance

Motorradfahrer gehören zu den besonders gefährdeten Verkehrsteilnehmern. Hier sinke die Zahl der Opfer seit Jahren nicht mehr, sagt Felix Deissinger von BMW Motorrad. Besonders hoch sei die Zahl der Todesopfer ohne Unfallgegner sowie bei Zusammenstößen mit Pkw.

Deissinger begrüßt daher, dass 2010 endlich Tagfahrlicht für Motorräder zugelassen wurde und Motorrad-ABS ab 2017 für neue Maschinen ab 125 ccm Hubraum Pflicht wird. Dennoch müsse sich der Fahrer auch selbst schützen, zum Beispiel durch eine neue Airbag-Jacke oder ein Fahrtraining.

Unter dem Strich müssen die Experten feststellen: „Das Ziel 2020 ist nicht mehr erreichbar“. Die Gesellschaft akzeptiere jeden Monat „Opferzahlen in der Größenordnung eines Airbus“ auf Deutschlands Straßen, sagt Markus Lienkamp von der TU München. Eine „Kultur der Sicherheit“ wie in skandinavischen Ländern fehle den Deutschen. Immerhin habe die Politik kürzlich die Einführung von Tempo-30-Zonen erleichtert. Und dann folgt ein typischer Ingenieur-Satz: Dies sei „hilfreich, aber nicht ausreichend“.

Avatar von bjoernmg
Renault
165
Hat Dir der Artikel gefallen? 4 von 5 fanden den Artikel lesenswert.
Diesen Artikel teilen:
165 Antworten: