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Reportage: Wenn Rentner ihren Führerschein abgeben - "Mein Auto war mein Freund"

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Es fällt schwer, sich eine Schwäche einzugestehen. Besonders, wenn es ums Alter geht. Eine Geschichte von zwei Rentnern, ihren Führerscheinen und dem Älterwerden.

Berlin – Irgendwann ist er da. Nicht plötzlich, dafür unausweichlich: Der Tag, an dem auch wir uns eingestehen müssen, dass der Kampf gegen das Alter nicht zu gewinnen ist. Dass wir für das Autofahren zu alt sind. Eine Niederlage für Stolz und Ehre. Schmerzhaft in der Brust, umfangreich in ihren Folgen. Denn unser Alltag ändert sich für den Rest unseres Lebens.

Über Jahrzehnte arbeiten und feilen wir an unserem Können. Am Ende schauen wir hilflos zu, wie es verblasst. Sich einzugestehen, einen Teil seiner Selbstständigkeit abgeben zu müssen, kostet Kraft und Mut. Den Mut zu sagen "Ich kann das nicht mehr". Christa Fischer und Ulrich Mehl haben das erlebt und berichten, wie sie damit umgehen.

Christa

Der Tag, an dem Christa Fischer die Bordsteinkante rammte, war einer ihrer schlimmsten. Sie hatte zwar keinen Kratzer abbekommen. Aber als die Männer des ADAC das Wrack ihres roten Mazda wegfuhren, wurde ihr schlagartig bewusst, dass die Zeit gekommen war. Der Moment, den sie immer verdrängt hatte: Christa Fischer hatte gerade ihr letztes Auto zu Schrott gefahren. Totalschaden. Ihre Augen waren wohl schlechter, als sie gedacht hatte. Und in ihrem Alter sollte sie vermutlich keinen neuen Wagen mehr kaufen. Damals war Christa Fischer 90 Jahre alt.

Inzwischen ist die Berlinerin mit den braunen Locken 92. Sie sitzt im Gemeinschaftsraum eines Seniorenzentrums, wo sie Rentnern jede Woche Gymnastikkurse gibt. Ihre Kursteilnehmer fragen sie oft, wie das so ist, so ganz ohne Auto. Dann sagt sie immer: „Ich fühle mich wie amputiert.“ Danach lacht sie laut, so wie sie es immer tut, wenn sie etwas Unangenehmes erzählt. „Damals, nach diesem Wumms, sah ich dem Ende entgegen.“ Sie hält inne. „Aber das Ende ist noch weit weg. Ich bin noch ganz gut beisammen. Wären da nur nicht die Augen.“

Wenn ältere Autofahrer schlechter sehen, fahren sie zunehmend unsicherer. Sie hören oft auch nicht mehr so gut, reagieren langsamer, können nicht mehr über die Schulter schauen. Auch manche Medikamente beeinträchtigen ihre Fahrt. Und obwohl viele vorsichtig, nur am Tag und nur bekannte Strecken fahren, verursachen Über-75-Jährige überproportional viele schwere Unfälle.

Bei drei von vier Unfällen

Das zeigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Personen, die älter als 75 Jahr sind, sind an drei von vier Unfällen mit Toten und Verletzten schuld, an denen sie beteiligt sind. Und da Menschen immer länger leben, wird es in Zukunft zwangsläufig mehr Unfälle mit Senioren geben, erklären die Unfallforscher der Versicherer.

Christa Fischer sagt: „Einige merken nicht, dass ihre Kräfte nachlassen. Man muss das Unausweichliche akzeptieren.“ Sie lacht wieder. „Aber ich werde mein Auto wohl bis zum Ende vermissen.“ Das Auto bedeutete Freiheit für die ehemalige kaufmännische Direktorin eines Berliner Hotels. Ihren ersten VW Käfer kauften Fischer und ihr Mann nach dem Zweiten Weltkrieg. „Das war ein richtiges Statussymbol. Endlich konnten wir reisen. Quer durch Deutschland, nach Italien bis nach Sizilien und Sardinien.“

Ulrich

Auch Ulrich Mehl ist in seinem Leben viele Zehntausend Kilometer gefahren. Inzwischen ermüden den 74-Jährigen die vielen Autos, Straßenbahnen, Busse, Radfahrer und Fußgänger in Berlins Innenstadt. Seine Tochter riet ihm, einen freiwilligen Fahrfitness-Check zu machen. Dabei fahren Senioren wie bei einer Fahrprüfung mit einem Fahrlehrer durch die Straßen. Danach gibt der Experte Empfehlungen und Tipps. Den Führerschein kann er ihnen natürlich nicht wegnehmen. Und auch den Behörden meldet er seine Beurteilung nicht.

Das ist in vielen Ländern anders: Ältere Schweizer, Italiener, Finnen, Tschechen, Neuseeländer und Kanadier etwa müssen alle paar Jahre Gesundheits- oder Sehtests absolvieren. In einigen Staaten kann der Arzt sie dann zum Fahrtest schicken. Wenn sie den nicht bestehen, ist der Führerschein weg.

In Deutschland möchten weder Politiker noch Autoclubs unsichere Rentner zwingen, mit dem Autofahren aufzuhören. Sie appellieren stattdessen an die Eigenverantwortung. Sie kennen die Liebe zum Auto und die Abhängigkeit davon, besonders auf dem Land. Wissenschaftler können nach Angaben des Weltverkehrsforums der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) noch nicht genau sagen, ob Tests für alle Senioren zu insgesamt mehr Verkehrssicherheit führen. In Deutschland müssen nur Lastwagenfahrer regelmäßig ihre Reaktionsfähigkeit in speziellen Zentren überprüfen lassen.

Angebote für ältere Autofahrer

Etwa 3.300 ältere Autofahrer haben im vergangenen Jahr in Deutschland freiwillige Feedbackfahrten mit Experten der Autoclubs ADAC und ACE gemacht. Knapp 83.000 weitere haben einen "Sicher Mobil"-Kurs für Senioren des Deutschen Verkehrssicherheitsrats besucht, wo sie etwa lernen, wie man vom Auto auf den öffentlichen Verkehr umsteigt.

Zudem haben rund 219.000 Senioren Infoveranstaltungen der Deutschen Verkehrswacht besucht, wo sie beispielsweise Seh- und Reaktionstests machen können. Für solche Angebote interessieren sich dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat zufolge immer mehr Rentner. Einige würden ihre Fähigkeiten auch in Kursen testen, die nicht speziell an Senioren adressiert sind - weil sie sich nicht alt fühlten.

Zwischen Hoffnung und Enttäuschung

Vor Ulrich Mehls Fahrfitness-Check fragt Fahrlehrer Uwe Bocher: „Sind Sie nervös?“ – „Ein bisschen. Ich werde ja beobachtet.“ Mehl fährt sicher los. Dann kommt er auf eine Kreuzung mit viel Verkehr. Einige Fußgänger rennen noch bei Rot rüber. Ein Bus kommt von der Seite, Fahrräder auch. Mehl hat Grün. Er zögert. Hinter ihm wird gehupt. „Immer diese Drängler“, schimpft Mehl und fährt los. „Das war etwas knapp“, sagt Bocher mit einer ruhigen Stimme. „Ich hätte noch etwas gewartet. Wenn was passiert, haben Sie das Problem. Lassen Sie sich von denen nicht aus der Ruhe bringen.“

Plötzlich piepst es. „Was war das?“ – „Der Abstandsmesser - wahrscheinlich gab es da ein Objekt“, erklärt der Fahrlehrer. Er sagt, dass die Töne vieler Assistenzsysteme im Auto Senioren verwirren, da sie die Geräusche nicht gleich zuordnen können.

Die Fahrt geht weiter in das Viertel, in dem Mehl wohnt. Bei einer Abzweigung fragt Bocher: „Haben Sie Vorfahrt?“ – „Ja“, antwortet Mehl. „Nein“, sagt Bocher und erklärt, dass bei der Straße kürzlich die Verkehrsschilder ausgetauscht worden sind.

Nach einer Dreiviertelstunde endet die Fahrt vor Bochers Büro. Dort sieht es aus wie in einem Spielzimmer: Dutzende bunte Modellautos liegen auf Regalen. Eine Straßenkarte hängt an der Wand, daneben viele kleine Magnete mit Verkehrsschildern.

„Man merkt, dass Sie viel gefahren sind“, sagt Bocher dem Rentner, der früher Lastwagen bei der Bundeswehr steuerte und als amtlicher Naturschützer quer durchs Land kurvte, um Biotope zu kartographieren. „Aber vielleicht könnten Sie die eine oder andere Verkehrsregel nochmals anschauen.“

Der Experte erklärt dem Autofahrer, dass Rentner Unfälle oft deswegen verursachten, weil sie zu sehr nach Gefühl fahren, die Vorfahrt missachten, falsch lenken, abbiegen oder zu geringen Abstand zu anderen Fahrzeugen halten. Anschließend besprechen die beiden Männer die schwierigsten Situationen der Testfahrt.

Bocher bietet seit sieben Jahren Feedbackfahrten und spezielle Weiterbildungskurse für Senioren an. Sein Fazit: „Die Rentner, die wirklich kommen sollten, kommen nicht.“ Die meisten kämen auf Drängen von Ehefrau oder Kindern, die sich Sorgen machten. Viele Familien verschweigen das Thema jedoch, um Streit zu vermeiden.

"Mein Auto war mein Freund"

Ulrich Mehl hat versucht, Freunde und Bekannte zu überzeugen, auch einen Fahrfitness-Check zu machen – erfolglos. Für Mehl wird es einfacher sein, aufzuhören. Für ihn waren Autos immer nur ein Mittel, um von A nach B zu kommen. Inzwischen hat er eine Jahreskarte für den öffentlichen Nahverkehr in Berlin. „Das ist in meinem Alter angenehmer.“ Er findet Projekte wie in Baden-Württemberg oder Frankfurt toll, wo ältere Menschen günstig Bahn und Bus fahren können, wenn sie den Führerschein abgeben.

Christa Fischer hingegen würde keine Gratisfahrkarte dazu bringen, in die Bahn umzusteigen. Bahnen und Busse hat sie immer schon gehasst. „Dort ist es zu eng und man muss sich immer nach diesen Fahrplänen richten.“ Seit dem Unfall fährt sie Taxi. „Ich sitze immer neben dem Fahrer. Dann fühle ich mich fast wie im eigenen Auto.“

Die 92-Jährige kramt in ihrer Handtasche und holt ihren Führerschein aus dem Portemonnaie. Sie schaut die kleine Karte an. „Ich kann gar nicht mehr genau sehen, was da steht.“ Ihren Führerschein hat sie immer in der Tasche, seit sie ihn mit 27 Jahren erhalten hat. „Mein Auto war mein Freund.“ Sie lächelt. Ihre Hände zittern leicht. „In all den Jahren hatte ich nie einen Punkt in Flensburg.“ Und dann: „Ich bin seit dem Unfall nie mehr gefahren, aber es könnte ja sein, dass ich ihn eines Tages bei einem Notfall noch mal brauchen werde.“

Quelle: dpa

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