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alexnoe81
Mon Dec 18 18:58:19 CET 2023 |
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Seit einiger Zeit wird alle 3 Jahre eine sogenannte PISA-Studie durchgeführt, um den Bildungsstand von Schülern zu überprüfen. Und die Tendenz der vorangegangenen PISA-Studien lautet: der Bildungsstand nimmt ab, und es wird immer schlimmer. Schüler können immer schlechter Lesen und Rechnen, und das bei recht elementaren Aufgabenstellungen.
Was jedoch nie dazugesagt wird, ist, dass das kein neues Phänomen ist. Neu ist lediglich, dass man es systematisch untersucht.
Den folgenden Text habe ich sinngemäß bereits im Heise-Forum zum Thema der Bildungsmisere gepostet. Ich zeige im folgenden, dass die Bildungsmisere bereits vor Jahrzehnten ein Problem war, und zwar am Beispiel der Darstellung, dass Diesel-PKW angeblich einen AdBlue-Verbrauch in Höhe von mindestens 5 Prozent des Kraftstoffverbrauchs haben müssten. Es lässt sich nämlich rechnerisch zeigen, dass einer der bekannteren Autoren dieser Behauptung, geboren 1956, entweder
a) wahllos Zahlen zusammengeworfen hat, ohne ein Mindestmaß an Konsistenzprüfung durchzuführen, und dass auch sonst wohl niemand diese Konsistenzprüfung durchgeführt hat
b) oder dass es sich einfach um Falschinformationen gehandelt hat.
Da die Aufgabe im Prinzip mit Schulwissen lösbar ist, halte ich b) für wahrscheinlicher.
Nehmen wir dazu den Artikel "Für saubere Abgase sind große Mengen Adblue nötig", unter [1], von 2017. Dort wurde der Experte für Verbrennungsmotoren Klaus Schreiner, geboren 1956 [2], zum Thema AdBlue-Verbrauch befragt.
Erste Aussage:
Bereits das ist Unsinn, denn der Artikel ist von 2017. Zu dieser Zeit hatten viele PKW bereits eine Niederdruck-Abgasrückführung (z.B. VW EA288 ab 2012, Mercedes OM 651 auch ab 2012), die Abgase erst hinter dem Partikelfilter entnimmt. Die Niederdruck-Abgasrückführung ist die Lösung schlechthin, um eine Verkokung des gesamten Systems zu unterbinden. Sie ist konstruktiv teurer, aber addiert man Anschaffungskosten und Reparaturkosten im Laufe der Zeit, dann lohnt sich die Niederdruck-Abgasrückführung nicht nur technisch, sondern auch finanziell gegenüber einer reinen Hochdruck-Abgasrückführung. Ab und zu werden Kühler durch die hohe thermische Belastung undicht, das ist aber kein Massenphänomen mehr.
Bei LKW dagegen ist der älteste Hinweis auf eine solche Niederdruck-Abgasrückführung, den ich finden konnte, von 2019 - und zwar in Form eines Konzepts, wie man das theoretisch machen könnte. Bisher geht man bei LKW den Weg, die Abgasrückführung entweder gleich ganz wegzulassen, oder sie möglichst nicht zu verwenden, und stattdessen viele Stickoxide mit viel AdBlue nachzubehandeln.
Schlussfolgerung: Der "Experte" hat den AdBlue-Verbrauch von LKW auf PKW übertragen, obwohl es zum Zeitpunkt seiner Aussage bereits fundamentale Unterschiede zwischen LKW- und PKW-Motoren gerade bei der AGR-Technik - und somit bei der Vermeidung von Stickoxid-Produktion - gab.
Noch schlimmer ist jedoch das folgende, nämlich die Aussagen 2 bis 4:
Diese drei Aussage sind unvereinbar miteinander, und das lässt rechnerisch nachweisen. Dazu reicht es, mit Stoffmengen rechnen zu können. Kenntnisse über Motoren oder Fahrzeuge sind dazu nicht erforderlich, außer das Wissen, dass der Wirkungsgrad von Dieselmotoren bei grob 40 Prozent liegt.
AdBlue ist eine Lösung aus 32,5 Masse-% Harnstoff und 67,5 Masse-% demineralisiertem Wasser. Mit molaren Massen von 60g/mol für Harnstoff und 18g/mol für Wasser ergibt sich, dass 1 Mol Harnstoff (=60g) in 6,92 Mol Wasser (124,6g) gelöst sind. Wir haben also 1 Mol Harnstoff in 184,6g AdBlue.
Die chemischen Reaktionen sind nun:
(NH2)2CO -> NH3 + HNCO
HNCO + H2O -> NH3 + H2O
d.h. aus 1 Mol Harnstoff (=60g) in 184,6g AdBlue gewinnt man 2 Mol Ammoniak = 34g.
Und dann:
NO + NO2 + 2 NH3 -> 2 N2 + 3 H2O
4 NO + 4 NH3 + O2 -> 4 N2 + 6 H2O
d.h. wir verbrauchen 1 Mol Ammoniak pro 1 Mol Stickoxide.
Nun sagt die Abgasverordnung, dass das NO2-Äquivalent betrachtet wird, d.h. NO wird so gerechnet, als wäre es NO2. Wir verbrauchen also 1 Mol Ammoniak = 17g für 1 Mol NOx = 46g. Da wir aus 1 Mol Harnstoff = 60g in 184,6g AdBlue 2 Mol Ammoniak für 2 Mol NOx = 92g gewinnen, verbrauchen wir 2,006g AdBlue = 1,84 ml AdBlue für 1 g NOx.
Oder andersrum: 1 Liter AdBlue wird für 543g NOx benötigt. Bei Systemen mit hoher Umwandlungsrate geht man in der Fachliteratur von 5-10% Überdosierung aus. Nehmen wir vereinfacht also 1 Liter AdBlue für 500g NOx.
Ein normaler Diesel-PKW mit 6l/100km müsste nun laut dem "Experten" 3 bis 4,8l/1.000km AdBlue verbrauchen. Das ergibt also Werte von 1,5g bis 2,4g NOx/km vor SCR. Läge die Umwandlungsrate nun tatsächlich, wie vom "Experten" behauptet, nur bei maximal 90%, dann würden solche PKW immer noch 150 bis 240mg NOx/km ausstoßen (Grenzwert Euro 6: 80mg/km) - trotz sehr hohem AdBlue-Verbrauch. Das wiederum steht im direkten Widerspruch zur Aussage des gleichen "Experten", dass einzelne PKW den Grenzwert einhalten (2017 war die Aussage, dass nur einzelne PKW die Werte einhalten, korrekt). Um bei erlaubten 80 mg/km und Werten vor SCR von 1,5g bis 2,4g/km hinzukommen, müsste die Umwandlungsrate im Durchschnitt bei 95 bis 97 Prozent liegen. Möchte man den Grenzwert sicher einhalten, müsste man die Umwandlungsrate noch weiter erhöhen.
Bei LKW sind solche Umwandlungsraten tatsächlich möglich, was dem "Experten" aber nicht bekannt war, sonst hätte er ja nicht LKW und PKW gleichgesetzt und dann von 90 Prozent gesprochen. Iveco hat bereits 2015 von 97 Prozent Umwandlungsrate bei Motoren ohne AGR gesprochen [3]. Bei Euro VI-LKW sind rechnerisch schon 95 Prozent notwendig, wenn einerseits der AdBlue-Verbrauch bei 6% (wie bei Scania und Iveco) des Kraftstoffverbrauchs liegt, und andererseits der Grenzwert von 0,4g NOx/kWh eingehalten werden soll. Die Werte, die der Experte angegeben hat, machen also auch für LKW keinen Sinn. Rechnerischer Nachweis:
Wenn der AdBlue-Verbrauch bei 6% des Kraftstoffverbrauchs liegt, dann heißt das, dass man aus einem Liter Diesel etwa 30g NOx produziert (und dafür 60ml AdBlue verbraucht). Ein Liter Diesel enthält ca. 10 kWh. Bei einem Wirkungsgrad von 40% gewinnt man also 4 kWh aus einem Liter Diesel, und bei 4 kWh dürfen 4*0,4g NOx = 1,6g NOx ausgestoßen werden. Wenn man 30g NOx vor SCR hat und 1,6g NOx nach SCR haben darf, ist eine Umwandlungsrate von 95% notwendig, um um den Grenzwert herum schwanken zu können. Die Grenzwerte sind aber eigentlich nicht so gemeint, dass man darum herumschwankt, sondern dass man sie einhält. Die von Iveco genannten 97% sind als geringfügig besser als das rechnerisch notwendige Minimum, wenn ein Euro VI-LKW einen AdBlue-Verbrauch von 6% des Kraftstoffverbrauchs haben soll. Iveco macht hier also kein tolles Werbeversprechen, sondern verspricht mit diesen 97% einfach nur Gesetzeskonformität.
Somit ist rechnerisch nachgewiesen: verbraucht ein Euro 6/VI-Fahrzeug tatsächlich so viel AdBlue wie vom "Experten" genannt, und liegt die Umwandlungsrate seines AdBlue-Systems bei nur 90%, dann kann es nicht gesetzeskonform sein. Die Analyse ist reine Chemie.
Es gibt einen weiteren Aspekt, bei dem dem Experten hätte auffallen müssen, dass sein Ansatz Unsinn ist: NOx-Sensoren messen den Volumenanteil von Stickoxiden im Abgas. Laut der thermischen Zustandsgleichung idealer Gase hat bei gleichem Druck und gleicher Temperatur 1 Mol eines Gases immer das gleiche Volumen. Da NOx eine molare Masse von 46g hat, und Dieselabgas etwa 29g, ist der Masseanteil einfach 46/29 * Volumenanteil. Also kennt man den Masseanteil von Stickoxiden im Abgas. Hat man dann noch den Abgasmassenstrom, und den rechnet das Motorsteuergerät ohnehin aus, kann man allein aus Daten, die man aus dem Motorsteuergerät permanent auslesen kann, den NOx-Massenstrom berechnen. Integriert man den NOx-Massenstrom nach der Zeit, hat man die NOx-Masse. Je nachdem, wo der oder die Sensoren genau sitzen, kann man also NOx vor SCR und/oder NOx nach SCR in mg/km ausrechnen - allein aus Daten, die das Motorsteuergerät sowieso erfasst oder berechnet. Und hat man NOx vor SCR in mg/km, kann man auch den (langfristigen) AdBlue-Soll-Verbrauch ausrechnen. Ganz ohne Wissen darüber, warum NOx vor SCR bestimmte Werte annimmt, oder was eine Abgasrückführung macht. Ich habe das mit meinem Auto durchexerziert (VW EA288 evo), und - voilà - es funktioniert.
Der "Experte" hat sich also nicht nur damit blamiert, dass seine Aussagen in sich einen Widerspruch darstellen, sondern auch damit, dass die eigentliche Fragestellung, die an ihn gerichtet wurde, eine Rechenaufgabe war, er jedoch nichts berechnet hat. Es war keine Schätzaufgabe, auch keine Vermutungsaufgabe, sondern eine Rechenaufgabe, und zwar eine, die mit Schulwissen in Mathematik, Physik und Chemie lösbar war, wenn man sich die Mühe macht, die Reaktionsgleichungen zu recherchieren und ein paar Daten von ein paar Fahrzeugen auszuwerten.
Falls es sich bei der Analyse des "Experten" tatsächlich nicht um Falschinformationen, sondern um einen Irrtum handelt, dann heißt das: bereits jemand, der 1956 geboren ist, und als Experte für Verbrennungsmotoren an einer Hochschule tätig war, kann bei einer relativ einfachen MINT-Aufgabe* komplett versagen. PISA ist nicht neu, und die Ergebnisse sind nicht überraschend. PISA hat sich seit Jahrzehnten angebahnt. Man kann es heute nur nicht mehr wegdiskutieren. Aber unabhängig davon, ob der "Experte" sich geirrt hat oder ob er Falschinformationen geliefert hat, ist die Berechnung so leicht, dass es mal jemand hätte nachprüfen können.
[1] https://www.stuttgarter-nachrichten.de/...-4818-a9f5-ac99f37168fa.html
[2] https://www.htwg-konstanz.de/.../lebenslauf
[3] https://www.iveco.com/.../das-iveco-hi-scr-system.aspx
* Ich verstehe, wenn ein Ottonormal-Autofahrer gar nicht auf die Idee kommt, die Funktionsweise solcher System verstehen zu wollen, und auch nicht versucht, so etwas nachzurechnen. Für einen Experten in diesem Bereich hätte die Aufgabenstellung aber leicht sein müssen.