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Classic Driving News

US-Sportler mit Dampf-Ansage

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Auf die Dauer half nur Power: Der neue Sting Ray mit 250 PS, scharfen Kurven und geteilter Heckscheibe war 1963 die Dampf-Ansage der Chevrolet Corvette gegen Europas Sport-Export. Seine Power ist von Dauer.

Dieses Heckfenster nimmt allen Beschreibungsversuchen den Atem. Sah der Gordische Knoten nach der Begegnung mit Alexander dem Großen jemals zweigeteilter aus? Gleicht der Steg zwischen den Fensterhälften nicht dem widerborstigen Fellstreifen auf dem Rücken der Ridgebacks, die Afrika einst züchtete, um Löwen zu jagen? Oder ist das "Split-Window" nur eine frühe automobile Ahnung von Jennifer Lopez im String-Tanga von hinten?

Erkennungszeichen der Corvette Sting-Ray: Split-Window

Wie die Antwort auch ausfällt: Mit dem geteilten Heckfenster brannten Bill Mitchell - damals Designchef von General Motors - und seine rechte Hand Larry Shinoda ein unverwechselbares Merkmal in die Geschichte der Autoformen. Wie ein Bugatti Atlantic oder der Flügeltürer erhebt es Anspruch auf ewige Gültigkeit. Doch der Automobilverkauf ist ein harter Designkritiker.

Das geteilte Fenster brachte es nur auf ein Baujahr, dann musste sich Mitchell dem Vernunftsargument von Technik-Chef Zora Arkus-Duntov beugen: Schon das 64er Corvette-Coupé bekam die durchgehende Heckscheibe, weil der Steg von außen zwar dramatisch wirkte, von innen aber die Sicht drastisch verschlechterte. Nicht wenige Kunden der ersten Sting-Ray-Stunde griffen erfreut zur Säge, trennten den Heckfenster-Steg heraus und passten die neue, einteilige Scheibe der Saison 1964 ein. Auch deshalb gibt es heute nur noch weit weniger der 63er Split-Window-Coupés, als es die hohe Produktionszahl von 10.594 Exemplaren vermuten ließe. Dabei war das erste Jahr der C2-Familie ein Meilenstein für General Motors: Weil sich dem Abverkauf der geschlossenen Version noch 10.919 Cabrios beigesellten, kam GM 1963 erstmals auf eine Sportwagen-Produktion von mehr als 20.000 Exemplaren. Der Weg zum Split-Window war dabei keineswegs ein schnurgerade verlaufender Pfad von der angenehmen Kürze eines Drag strips, der ja schon nach einer Viertelmeile am Ende ist. 

Die Corvette Sting-Ray profitiert von ihrem kompromisslosen Design

Um den Sting Ray zu verstehen, müssen wir uns deshalb ein wenig durch die Landmarken auf dem Weg zur zweiten Corvette-Generation blättern. Dream Cars hatten bei GM immer Konjunktur, und schon 1938 kam unter Harley Earl der Buick Y-Job, der zusammen mit dem Le Sabre von 1951 das Thema der Sting-Ray-Klappscheinwerfer vorweg nahm. 1954 zeigte das Oldsmobile Cutlass Sports Coupé bereits den Retro-Aspekt des tropfenförmigen Dachs, der an die Boattail-Roadster der 20er und 30er Jahre erinnerte. Im gleichen Jahr debütierte die Corvair-Coupé-Studie, die bereits den Seitenriss des Sting Ray enthielt. 1959 ließ sich Mitchell auf Basis der Corvette-SS-Version, mit der Arkus-Duntov zwei Jahre zuvor die Sebring-Bremsanlage getestet hatte, einen Rennwagen für den Hausgebrauch bauen - und weil Mitchell ein begeisterter Petri-Jünger war, fing er beim Angeln nach Namen den Stachelrochen. Auf Englisch: Sting Ray.

Mitchell hasste Entscheidungen durch Kommissionen, denn die damit verbundenen Kompromisse waren ihm ein Gräuel. Der Sting Ray aus dem Modelljahr 1963 bezieht genau daraus seinen Reiz: So sieht ein Sportwagen aus, den ein starker Charakter bis ins Detail gegen alle Einsprüche und Bedenken durchgesetzt hat. Dafür, dass die Optik der Kraft und Herrlichkeit auch unter der Karosserie ihre technische Entsprechung fand, sorgt die im Vergleich zur Ur-Corvette von 1953 radikal geänderte Anatomie.

Leiterrahmen sorgt für Festigkeit, Trommelbremsen für Schweiß auf der Stirn

Der alte X-Rahmen hatte ausgedient, denn ein neuer Leiterrahmen mit fünf stabilen Quertraversen verdoppelte annähernd die Verdreh-Festigkeit der Sting-Ray-Coupés. Einen weiteren entscheidenden Vorteil bot dazu die neue Hinterrad-Aufhängung. Statt die trampelnde und beim kräftigen Gasgeben gern springende hintere Starrachse zu übernehmen, kam eine moderne Einzelrad-Aufhängung. Während Achsantrieb und Differenzial fest mit dem Rahmen verschraubt sind, federt jedes der Antriebsräder an drei Quer- und Längslenkern. Nach dem Vorbild der -Jaguar-E-Achse funktionieren die beiden Antriebswellen gleichzeitig als obere Querlenker. Anders als bei Jaguar liegen jedoch die Bremsen nicht innen am Achsantrieb, sondern außen - zwecks leichterer Wartung.

Obwohl Scheibenbremsen bei Sportwagen 1963 bereits zum technischen Allgemeingut gehören, setzt Mitchell aus Kostengründen auf Trommelbremsen. Für den Sporteinsatz gibt es statt der nicht eben sonderlich standfesten Grauguss-Töpfe Leichtmetall-Bremsen mit einem eingeschrumpften Gussring, auf dem ein Sintermetall-Belag reibt. Die höheren Pedaldrücke erfordern allerdings die auf Wunsch erhältliche Servo-Unterstützung. Wer heute mit einem Sting Ray das Stilfser Joch hinunterfährt, tut gut daran, der Grauguss-Bremse nicht zu knappe Erholungszeiten zu gönnen. 

Corvette Sting-Ray: Ein Kind der reinen Leidenschaft

Ein werksmäßiger Renneinsatz kommt für General Motors damals nicht in Frage. 1957 hatte man sich mit Ford und Chrysler geeinigt, auf ein Wettrüsten für die Rennstrecke zu verzichten. Es bleibt den Privat-Teams vorbehalten, Autos der großen Drei im Motorsport einzusetzen. Der Geist der karierten Flagge hatte sich jedoch in den Träumen der beteiligten Techniker längst eingenistet. Als Arkus-Duntov 1959 mit Geldern aus dem Entwicklungs- und Design-Etat die Studie CERV -entwirft, bekommt der damalige GM-Chef Frederick Donner einen Tobsuchtsanfall: Vor ihm steht ein sauberer Monoposto, gebaut nach den Indy-Regeln für 1960. Der Name CERV wurde von seinen Vätern aus Chevrolet Experimental Racing-Vehicle abgeleitet. 

Donner macht seinem Nachnamen alle Ehre. Von da an steht das R in CERV statt für Racing für Research. Es ist wichtig, davon zu wissen. Denn wer sich einen Sting Ray als Klassiker in die Garage stellt, hat viel mehr als ein US-Auto-Klischee zwischen Kaugummi und Western-Stiefeln. Er fährt ein Kind der reinen Leidenschaft. Um die Kundenteams angemessen zu motorisieren, gehen die Race-Fans bei GM den gleichen Weg wie ihre Kollegen von Ford: Dort gibt es entgegen der offiziellen Rennabstinenz im Total-Performance-Programm jede Menge Leistung ab Werk; auch der Sting Ray brilliert schon zu seinem Start mit vergnüglichen Motorvariationen. Basis ist in jedem Fall der Small Block mit 327 cubic inch Hubraum (5,4 Liter), der es in seiner zahmsten Version auf 250 PS bei 4.400/min bringt.

Mit vergrößertem Ansaugtrakt und entsprechendem Carter-Vergaser fallen bereits 300 PS an, die sich durch eine schärfere Nockenwelle auf 340 PS steigern lassen. King of the Road ist sozusagen die 360-PS-Version, die ihre Gemischaufbereitung einer Rochester-Einspritzung überlässt. Diese Sting-Ray-Variante zählt heute zu den teuersten, ist jedoch auch sehr wartungsintensiv. Von Reparatur und Einstellung der Einspritzung nehmen selbst gestandene Corvette-Spezialisten gern Abstand. Während die beiden schwächeren Motoren über hydraulische Ventilstößel verfügen, kommt bei den beiden Kraftprotzen reine Mechanik zum Einsatz. 

Um nachträglich aufgerüstete Versionen entlarven zu können, hier die entsprechenden Codes in der Fahrgestellnummer (mt bedeutet handgeschaltetes Getriebe, at Automatik): RC 250 PS, mt; RD 300 PS, mt; RE 340 PS, mt; RF 360 PS, mt; SC 250 PS, at; SD 300 PS, at. Die Zylinderköpfe der 250-PS-Version entsprechen nicht den Köpfen der kräftigeren Geschwister. Die Rennleidenschaft der Corvette-Väter, die nicht durften, wie sie wollten, springt den Leser der Farbtabellen geradezu an: Da gibt es neben Smoking-Schwarz, Sattel-Braun und Hermelin-Weiß zum Beispiel Sebring-Silber und Daytona-Blau. 

64,50 Dollar Rabatt für alle, die auf Scheibenbremsen verzichten wollten

Das von Motor Klassik hier vorgestellte Exemplar ist in Riverside-Rot lackiert, der Farbe, die viele Split-Window-Fans am meisten schätzen. Hardliner akzeptieren bestenfalls noch Graugrün - als Grundierung. Der private Sting Ray von Kurt Huber, dem Chef von Corvette total in Bonstetten bei Zürich, repräsentiert das Fundament aller Split-Window-Begeisterung: Es ist ein SC, mit 250 PS, der Zweigang-Powerglide-Automatik, ohne Differenzialsperre, gebremst von vier Grauguss-Trommeln. Scheiben erhielt die C2-Serie 1965, doch lagen noch so viele alte Trommeln herum, dass Chevrolet demjenigen einen Rabatt von 64,50 Dollar gewährte, der seinen Sting Ray mit der alten Bremse orderte.

Beim Platz nehmen ist die Corvette höflich zur Frisur: Die ein Stückchen in das Dach hineingezogenen Türoberkanten geben einen geräumigen Einstieg frei, wie ihn der Scheitel in Sportwagen älterer und jüngerer Baujahre oft schmerzlich vermisst. Dem Dreh am Zündschlüssel folgt ein Räuspern im sonoren Bariton, dann verfällt das V8-Triebwerk in einen unerschütterlichen Leerlauf. Nach einem gefühlvollen Druck aufs Gaspedal setzt sich der Sting Ray geschmeidig in Bewegung. Seine Instrumententafel unter der doppelten bogenförmigen Bedachung ist eine Augenweide, und nur der Öldruckmesser macht Sorgen.

Manchmal bricht die Kupferleitung, die ihn direkt mit Öl unter Druck versorgt, und sowas gibt eine gewaltige Sauerei auf den roten Teppichen. Die Kugelumlauflenkung, 1963 als Ideal hoher Richtungsstabilität gepriesen, ist nach heutigen Maßstäben nur mittelmäßig genau. Die Straßen, in die der Fahrer abbiegen will, werden jedoch nie verfehlt. Federung und Dämpfung fühlen sich überraschend komfortabel an, und auf das leichte Rechts-Links-Zucken der Lenkung beim Anbremsen einer Kurve sind wir gefasst. Was den Ledersitzen an Seitenhalt fehlt, ersetzen sie durch Bequemlichkeit.

Und die Beschleunigungsorgien? Wer die Hinterräder zu starken Rauchern erziehen möchte, kommt um das handgeschaltete Vierganggetriebe plus Differenzialsperre kaum herum. Im SC droht noch nicht die Gefahr, beim abrupten Gasgeben plötzlich an der eigenen Zunge zu schlucken. Unser rennrotes Riverside-Baby sendet Signale anderer Art: Die Kraft reicht zum sportlichen Fahren allemal, und der gebotene Komfort macht den Sting Ray zum ernsthaften GT. Ein schneller Törn an die Ligurische Küste, und dann so parken, dass sich die untergehende Sonne im geteilten Heckfenster spiegelt. Auf dem Weg zurück in das Jahr, in dem die Beach Boys "Surfin' USA" herausbrachten, ist der Steg im Split-Window eine wunderbar trittfeste Brücke. 

 

Quelle: Motor Klassik

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