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Classic Driving News

Drei Revoluzzer der 68er

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Mit Audi 100 LS, NSU Ro80, Mercedes-Benz 230.6 waren 1968 drei forsche Revoluzzer auf dem Weg nach oben. Und raus aus dem Milieu: Sechszylinder-Star statt Bauern-Diesel bei Mercedes, Avantgarde-Limousine statt Prinzen-Zwerg bei NSU und Sport-Komfortklasse statt Zweitakt-Erbe bei Audi.

Er war ein echter 68er, ein Symbol zivilen Ungehorsams. Sein schlichter, eleganter Auftritt, wohl proportioniert und von geradezu italienischer Leichtigkeit, überzeugte den Technokraten aus dem Norden. "Ein schönes Auto, ein sehr schönes Auto", sprach der groß gewachsene, sonst so kühl wirkende Heinrich Nordhoff beinahe entrückt, als er das hinter einem Vorhang versteckte Eins-zu-Eins-Plastilin-Modell langsam umrundete.

Audi 100: Nordhoff wollte ihn nicht

VW-Generaldirektor Heinrich Nordhoff wollte aus der 1965 von Daimler-Benz übernommenen Auto Union in Ingolstadt nach dem Auslaufen der kleinen Audi-Mitteldruck-Modellreihe 60 bis Super 90 eine reine Käfer-Plantage machen. Damals liefen zur besseren Auslastung des krisengeschüttelten Werks 300 Volkswagen täglich vom Band.

Nordhoff verbot Audi-Chefkonstrukteur Ludwig Kraus und seinem Team deshalb jegliche Entwicklungsarbeit an einem neuen Modell. Für den kreativen Kraus war dies unerträglich, also machte er insgeheim weiter. Schließlich hatte er glänzend improvisiert, aus dem DKW F 102 doch noch ein gutes Auto, den ersten Audi mit Viertaktmotor gemacht. Den Motor hatte er quasi im Handgepäck, einen schweren 1,7-Liter-Brocken, der den Codenamen Mexico trug und mit seiner hohen Verdichtung von 11,2:1 als technischer Zwitter galt - halb Otto und halb Diesel.

Kraus, der leidenschaftliche Automobilkonstrukteur, der früher bei Daimler-Benz die Silberpfeil-Rennwagen entwickelte, überzeugte Audi-Chef Leiding und Nordhoff mit einem flammenden Plädoyer für das neue attraktive Nischenauto. Ein Modell für die Marktlücke zwischen Opel-Ford und BMW-Mercedes: "Sportlich, aber auch komfortabel wird er sein, elegant und geräumig. Mit mehr Detailperfektion entwickelt und sorgfältiger gefertigt als ein Opel oder Ford. Drei Leistungs- und Ausstattungsstufen sind vorgesehen, von 80 bis 100 PS. Sogar ein Coupé wäre denkbar", schwärmte der Vollbluttechniker.

Audi 100 - der Prokuristen-Mercedes

Als der neue große Wagen, der Audi 100 LS, schließlich auf dem Genfer Salon 1969 seine Messepremiere erlebte, höhnten eine Handvoll Kritiker, er sei eine Mercedes-Kopie. Schnell machte das gehässige Wort vom Prokuristen-Mercedes die Runde. Ludwig Kraus hat die Stuttgarter Schule nie verleugnet. Er kam 1963 nach 26 Jahren von Daimler-Benz zur Auto Union und hatte die formale Ästhetik der Wagen mit dem Stern ebenso im Blut wie die Mercedestypische konstruktive Sorgfalt im Detail.

Heute hat sich der erste Audi 100 längst vom Mercedes Strichacht emanzipiert. Stolz lebt der delftblaue Audi 100 LS seine stilistische und technische Eigenständigkeit. Gerade der im Herbst 1969 nachgeschobene Zweitürer betont die beeindruckende Zierlichkeit seiner Linienführung. Der dunkelgrüne Mercedes 230 parkt jetzt friedlich neben ihm. Er wirkt stämmiger, suggeriert aber auch mehr Solidität als die von modernem Leichtbau geprägte Hülle des Audi 100, die zudem noch ausgesprochen aerodynamisch war. Ein cW-Wert von 0,38 wird dem Audi 100 nachgesagt, der viel extremer gestaltete NSU Ro 80 kann es mit 0,36 kaum besser.

Revolutionäre Technik-Lösungen - "Maßstab in der gehobenen Mittelklasse"

Sein Gesicht ist freundlich, ja beinahe lächelnd. Mit den offen gezeigten vier Ringen in der Mitte trägt der Audi 100 auch nicht so schwer an der Tradition wie der aus allen Blickwinkeln kühl und ernst wirkende Mercedes 230.6. Auch er, tief im Kurbeltrieb seines braven vierfach gelagerten Sechszylinders ein Revolutionär der Neuen Sachlichkeit. Die zieht bei Mercedes pünktlich zum APO-Jahr 1968 ein und löst die barocke Pracht üppiger flossenverzierter Limousinen zum Entsetzen vieler Stammkunden ab.

Technisch emanzipiert sich der Audi 100 LS allerdings maximal vom Mercedes. Der Frontantrieb ist ihm ins Auto-Union-Stammbuch geschrieben, ebenso die genial einfache und leichte Torsionskurbelachse. Gemeinsam mit einer modernen Federbein-Konstruktion schufen Kraus und sein Team für den Audi 100 ein Fahrwerk, das langhubigen Federungskomfort und gute Straßenlage verbindet. Später, beim modifizierten 74er Modell, läuft es mit hinteren Federbeinen sogar zur Hochform auf. Es setzt laut auto motor und sport-Vergleichstest in Ausgabe 1/1974 "in puncto Fahrsicherheit den Maßstab in der gehobenen Mittelklasse". Selbst der eigenwillig konstruierte Mitteldruck- Motor ist im 100 nicht wiederzuerkennen. Im delftblauen 73er LS läuft er kultiviert, mit wohl komponiertem tiefen Auspuffklang. Sein rauer, ungepflegter Ton nahm mit der sukzessive von 10,2 auf 9,7:1 zurückgenommen Verdichtung ab.

Dennoch blieb der Audi 100-Motor wegen der prinzipbedingt intensiven Gemischverwirbelung im Querstrom-Zylinderkopf sparsam und entwickelt schon ab 2.000/min ein kräftiges Durchzugsvermögen. Die von Volkwagen entwickelte Dreigangautomatik unterstützt das natürliche Temperament und die ausgeprägte Drehfreude des OHV-Vierzylinders. Sie schaltet beim entschlossenen Gasgeben erfreulich spät hoch.

Strichacht: Milder Provokateur mit neuem Fahrwerk

Der schwere und behäbige Mercedes 230.6 Automatic hat Mühe, dem leichten und behänden Audi 100 zu folgen. Sein stämmiger Sechszylinder bleibt anders als in der angestrengten Pagode stets diskret und säuselt in typischer Mercedes-Tonart vor sich hin. Keine Spur von sportlicher Charakteristik, trotz obenliegender Nockenwelle. Seine Literleistung ist zahm, die Lebensdauer hoch. Er passt zum großen schweren Mercedes 230.6, der sanft abrollt und seinem Fahrer auch bei einer kurzen Stadtfahrt das eindrucksvolle Gefühl vermittelt, lange unterwegs zu sein. Jede Fahrt wird zur Reise. Das ist die Stärke gerade dieses ungewöhnlich gut ausgestatteten Mercedes 230.6, der neben der Automatik über ein elektrisches Schiebedach, elektrische Fensterheber vorn, getönte Scheiben und eine Servolenkung verfügt. Aber nicht nur die Fülle, auch die Qualität beeindruckt. Zwar wirkt der Audi 100 innen wärmer und wohnlicher, doch das dünne Holzfurnier wirkt so vergänglich wie das unschuldige Bambus der hübsch konturierten Cordsamt-Sitze.

Auch der Mercedes Strichacht ist im Grunde ein, wenn auch milder, Provokateur. Stilistisch und fahrwerkstechnisch prägt er eine neue Ära - der konsequente Abschied von der Pendelachse und die entschlossene Wende zu vier Scheibenbremsen. In der Fahrdynamik fährt Daimler-Benz jetzt nicht mehr hinterher, sondern schließt zum BMW-Standard einer vorbildlich spur- und sturzkonstanten Schräglenkerachse auf.

Ein beherrschbares Kurvenverhalten im Grenzbereich ohne plötzliche Neigung zum Ausbrechen und eine hohe Spurstabilität bei Vollbremsungen aus hohem Tempo machen den Strichacht im Vergleich zur S-Klasse überlegen. So stoisch, satt federnd und schwer liegt von unseren 68ern keiner auf der Straße, die Fronttriebler sind nervöser, aber auch agiler.

Das Auto aus der Zukunft: Ro80

Das gilt vor allem für den bananagelben NSU Ro 80, der mit seinem aufwendigen Fahrwerk aus vorderem McPherson-Federbein und hinteren Schräglenkern in der Handlingdisziplin weit vorausfährt. Entscheidend wird das spielerische, leichtfüßige Schnellfahren in Kurven von der präzisen und direkten ZF-Zahnstangen-Servolenkung geprägt. Auch die Bremsen des NSU Ro80 sind ein Gedicht. In seiner Schönheit und im technischen Anspruch gleicht der NSU Ro 80 dem Porsche 911. Ist es ein Zufall, dass beide die Fuchs-Alu-Räder tragen? Dass beiden Gelb und Orange so gut steht?

Doch bei aller Verehrung, liebe Wankel-Freunde, auch wenn es schmerzt: Letztlich ist es nicht der revolutionäre Kreiskolbenmotor, sondern es sind die funktionell-ästhetische Form und das sensibel-sophistische Fahrwerk, die den NSU Ro 80 heute noch so souverän wirken lassen. Den Motor muss man mögen, vor allem wenn man aus einem BMW 2500 umsteigt. Sein heller, singend näselnder Klang hat etwas von einem Dreizylinder-Zweitakter. Trösten wir uns damit, dass ohne den kompakten Motor die extreme Form erst gar nicht entstanden wäre. Das Dreiganggetriebe mit der halbherzigen Halbautomatik sorgt zwar für eine stets entspannte Fahrt. Es wird jedoch dem, pardon, drehzahlsüchtigen, aber drehmomentfaulen Wankelmotor, den erst fünf Gänge munter machen, nicht gerecht. Großstadtverkehr mag der NSU Ro 80 nicht. Da wirkt sich auch das Beschleunigungs- Handicap des großen, mit 115 PS nicht gerade übermotorisierten Wagens aus. Seine Domäne ist die Autobahn, vibrationsfreies Dahingleiten bei Tacho 160. Hier wird einem der spröde, unangepasste Wankel plötzlich zum lieben Freund.

Drei Charaktere, die ihre Freunde finden

Breite Spur und langer Radstand heften den Ro 80 auf die Straße. Da begnügt sich die Stromlinienform mit 12 Litern, und KKM 612 singt das Lied von der schönen neuen Welt, von der wunderbar komplizierten Einfachheit des Wankels. Dessen exzentrisch entlang der Trochoide kreisender Rotor wie ein Wunder den Raum in der Kammer ständig so verändert, dass ein Viertaktprozess dabei herauskommt. Kein stampfendes Auf und Ab, dem man das Drehen noch beibringen muss. Von kühler, ja beinahe asketischer Funktionalität geprägt ist das Interieur des NSU Ro 80. Es passt zum ingeniösen Charakter des Wagens, obwohl man sich mehr Luxus wünscht. Die schwarzen Polster stammen vom Audi 100 GL, sie wirken auch in der neuen Umgebung gediegen und anschmiegsam.

Aber der NSU Ro 80 ist kein emotionales Kuschelauto - dafür nimmt er sich zu ernst. Auch der würdevolle Strichacht eignet sich dafür nicht. Ganz nah am Herzen liegt der freundliche Audi 100. Ohne ihn, den schwer Geborenen, den ewig Unterschätzten, den Hoch Talentierten, gäbe es Audi heute gar nicht mehr. Oder nur als Nobel-Label von Volkswagen.

 

Quelle: Motor Klassik

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