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Traumatisierte Autofahrer lernen wieder fahren - Die Angst am Steuer

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Fahrängste sind ein Tabu. Insbesondere nach schweren Unfällen bleiben viele Autofahrer traumatisiert. Wir haben eine Betroffene beim Konfrontationstraining begleitet.

Die Angst im Nacken: In Extremfällen kann Panik das Autofahren unmöglich machen. Wir haben eine Patientin auf Konfrontationstherapie begleitet Die Angst im Nacken: In Extremfällen kann Panik das Autofahren unmöglich machen. Wir haben eine Patientin auf Konfrontationstherapie begleitet Quelle: dpa/Picture Alliance

Von Haiko Prengel

Berlin - Als der rote Porsche in den weißen Ford von Ines Manstein* krachte, wurde nicht nur ihr Wagen mit voller Wucht aus der Spur geworfen. Auch das Leben der 46-Jährigen geriet aus der Bahn. „Mein Auto stand genau da vorne“, berichtet sie, während wir an der Unfallstelle am Berliner Alexanderplatz vorbeirollen. Es ist eine vielbefahrene Kreuzung mitten in der City.

Manstein sitzt am Steuer eines Fahrschulwagens. Tränen laufen ihr aus den Augen. Krampfhaft und mit beiden Händen umklammert sie das Lenkrad. „Fahren Sie einfach über die Kreuzung“, sagt der Traumatherapeut. Aber so einfach ist das nicht, mit panischer Angst vor dem Autofahren. Der Fuß der 46-Jährigen zittert am Gaspedal.

Angst am Steuer ist für viele Autofahrer ein ernstes Problem. Der Automobilclub ADAC schätzt, dass in Deutschland mindestens eine Million Autofahrer Angst im Straßenverkehr haben. Weil sich viele nicht trauen, über ihre Furcht zu reden oder sich professionelle Hilfe zu suchen, gehen Experten von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus.

Es kann jeden erwischen

Ines Manstein will ihre Angst heute besiegen. In einem unscheinbaren, weißen VW Golf führt sie ein sogenanntes Konfrontationstraining in der Berliner Innenstadt durch. Mit dabei ist ein Traumatherapeut. Er versucht von der Rücksitzbank aus, mit einfühlsamen und manchmal energischen Worten der verunsicherten Autofahrerin etwas zurückzugeben. Etwas, das für andere selbstverständlich ist: die Freude am Fahren.

Ines Manstein empfindet im Moment nur Furcht. Mit im Auto sitzt daher auch ein Fahrlehrer, der im Notfall über die Pedale im Beifahrer-Fußraum eingreifen kann, falls die Panik zu groß wird. Damit das Nervenbündel am Steuer nicht zur Gefahr für sich und andere wird.

Typische Angstsituationen sind dichter Verkehr, schnelles Fahren, unübersichtliche Situationen oder Ein- und Ausparken Typische Angstsituationen sind dichter Verkehr, schnelles Fahren, unübersichtliche Situationen oder Ein- und Ausparken Quelle: dpa/Picture Alliance Bei Menschen mit Fahrängsten handelt es sich nicht nur um Fahranfänger, die sich zu sehr sorgen, dass sie ihr Auto beim Anfahren abwürgen oder das Einparken vor Publikum nicht schaffen. Betroffen sind auch Profis wie Berufskraftfahrer oder Busfahrer. Oder fahrerprobte Pendler, berichtet der Berliner Traumatherapeut Dominik Meier*.

Viele Autofahrer fühlen sich gelegentlich unsicher. Ab wann Fahrängste behandlungsbedürftig sind, ist schwer zu definieren, da die Ausprägungen sehr unterschiedlich sind. Klar ist, dass traumatische Erlebnisse wie ein Unfall Fahrängste auslösen können. „Beim Autofahren sind bestimmte Unberechenbarkeiten im Spiel. Und die Betroffenen haben Angst, die Dinge nicht mehr in der Hand zu haben“, erklärt Fahrlehrer Georg Graßhoff. Mit seiner integrativen Fahrschule in Berlin-Schöneberg hat sich der 63-Jährige auf den Abbau von Fahrängsten spezialisiert.

Trauma-Ursache Porsche-Crash

Auch Ines Manstein war mal eine routinierte Autofahrerin. „Ich bin gerne Auto gefahren“, sagt die Familienmutter, „bis zu meinem Unfall“. Der ereignete sich im Sommer 2016. Es war früh am Morgen, Manstein war auf dem Weg zur Arbeit. An der Kreuzung am Alexanderplatz nahm der Fahrer eines Kleinlasters beim Abbiegen einem Porsche-Fahrer die Vorfahrt und rammte den Sportwagen. Durch die Kollision wurde der Porsche in die linke Seite von Mansteins SUV geschleudert.

Was dann passierte, daran kann sich die 46-Jährige nicht mehr erinnern. Front- und Seitenairbags lösten aus, trotzdem wurde sie durch den harten Aufprall bewusstlos. „Laut Feuerwehr war die Unfallstelle ein einziges Trümmerfeld“, erzählt Manstein. „Schwerverletzte bei Porsche-Crash am Alexanderplatz“ schrieb ein Boulevardblatt damals.

Manstein kam mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus. Mit den Folgen kämpft sie bis heute. Eine Hand ist steif, sie leidet unter Migräne-Anfällen. Zudem wurden durch die Explosion der Airbags ihr Innenohr und das Gleichgewichtsorgan verletzt. Daher muss sie ein Hörgerät tragen.

Viel schlimmer sind für Ines Manstein die seelischen Folgen. An dem Unfall war sie unschuldig. Sie fühlte sich sicher in ihrem großen SUV, bis sie plötzlich beim Linksabbiegen von einem anderen Auto regelrecht abgeschossen wurde. Trotz aller Fahrfähigkeiten hilflos ausgeliefert zu sein – dieses Ohnmachtsgefühl hält Ines Manstein am meisten davon ab, wieder in ein Auto zu steigen und nach Berlin-Mitte zu fahren. Dorthin, wo ihre Arbeitsstelle war. Inzwischen hat der Chef ihr gekündigt.

Oft wird falsch behandelt

Angst am Steuer sei ein Tabu-Thema, sagt Traumatherapeut Dominik Meier. Viele Kassenärzte und Mediziner der Berufsgenossenschaften behandelten Betroffene nach dem Motto „Jetzt stellen Sie sich mal nicht so an!“ Autofahrer mit Angststörungen blieben deshalb häufig untherapiert. Andere würden falsch behandelt. „Dann lautet die Diagnose zum Beispiel Depression, und die Leute bekommen ein Medikament“, berichtet Meier.

Für die Verkehrssicherheit sind solche Fehldiagnosen gefährlich. Schweißausbrüche, Panikattacken, Todesängste – die Reaktionen von Angstpatienten können dramatisch sein. Viele entwickeln daher eine Vermeidungsstrategie und wählen alternative Verkehrsmittel wie Bus oder Bahn. Andere wiederum sind auf das Auto angewiesen und setzen sich trotzdem ans Steuer. Dann aber bedroht ihre Krankheit auch andere Verkehrsteilnehmer. „Angstattacken können zu Folgeunfällen führen“, warnt Fahrlehrer Graßhoff.

Inzwischen nähmen die Berufsgenossenschaften das Thema Angst am Steuer ernster, sagt Meier, der auch Ines Manstein behandelt. Weil sie auf dem Weg zur Arbeit verunfallte, übernimmt ihre Berufsgenossenschaft inzwischen die Kosten für das Konfrontationstraining. Parallel macht sie eine Psychotherapie. Ihr Ziel: Wieder ohne Angst in ein Auto steigen und ohne Panik in die Berliner Innenstadt fahren zu können.

Konfrontation auf der Autobahn

Panik hinter dem Steuer kann viele Ursachen haben, häufig ist ein traumatisches Erlebnis der Auslöser Panik hinter dem Steuer kann viele Ursachen haben, häufig ist ein traumatisches Erlebnis der Auslöser Quelle: dpa/Picture Alliance

Dafür muss die Brandenburgerin aber erst einmal auf die Autobahn, das ist eine weitere Übung beim Konfrontationstraining. Und da fangen die Probleme schon an. „Na, trauen Sie sich denn mal, ein bisschen Gas zu geben?“, fragt Fahrlehrer Graßhoff. Mit 80 Kilometern pro Stunde fahren – manche würden sagen, schleichen – wir über den Berliner Autobahnring. 80 km/h sind auf der Autobahn nicht viel, für Ines Manstein schon.

Bei höheren Geschwindigkeiten werden ihre Ohnmachtsgefühle besonders stark. Mit der Hilfe des Fahrlehrers und des Therapeuten schafft sie es dann doch, etwas schneller zu fahren. 90 km/h, 100 km/h, 110 km/h – allmählich bewegt sich die Tachonadel nach oben. Und Mansteins rechter Fuß zittert nicht mehr, er liegt ganz ruhig auf dem Gaspedal. Erleichtert atmet sie auf und sagt: „Ich muss mich da langsam herantasten.“

*Die Namen wurden auf Wunsch der Beteiligten von der Redaktion geändert.

Ratgeber: Was tun bei Angst am Steuer?

Es ist kein schwerer Unfall nötig, um Ängste am Steuer auszulösen. Hier sind einige Tipps, wie man Unsicherheiten beim Fahren vorbeugen beziehungsweise minimieren kann:

  1. Früher losfahren, entspannt ankommen: Termindruck ist eine der Hauptursachen für Stress am Steuer. Wer rechtzeitig losfährt, senkt den Stresspegel und kommt entspannter an. Untersuchungen haben gezeigt, dass der Zeitgewinn beim Rasen meist gegen Null geht.
  2. Defensiv und vorausschauend fahren: Wer Verkehrssituationen frühzeitig erkennt, kann auf unvorhergesehene Ereignisse besser reagieren. Und bei Fehlverhalten anderer ist man weniger überrascht.
  3. Schlechte Gewohnheiten ändern: Routinierte Autofahrer denken, dass sie ihr Fahrzeug wie im Schlaf beherrschen. Brenzlige Situationen erfordern aber ständige Wachsamkeit. Dazu gehören auch vermeintlich nervige Manöver wie Schulterblick, Blinken bei jeder (!) Fahrtrichtungsänderung und ein ausreichender Sicherheitsabstand.
  4. Für andere mitdenken: Es gibt Autofahrer, die auf ihrem Recht beharren – und dafür einen schweren Unfall in Kauf nehmen. Im Zweifelsfall gibt der Klügere nach, ganz sprichwörtlich.
  5. Zum Stressabbau gehört auch, dass man Situationen hinnimmt, die man nicht ändern kann. Zum Beispiel einen Stau auf der Autobahn oder im Stadtverkehr. Durch Wut und lautes Hupen kommt man nicht schneller voran. Also besser durchatmen – und sich über die freie Zeit freuen.
  6. Bei Angstattacken kann die richtige Atemtechnik (langsames, tiefes Bauchatmen) helfen, Blockaden zu überwinden. Auch angenehme Musik und Sauerstoffzufuhr helfen dabei, sich zu entspannen. Im Zweifelsfall besser rechts ranfahren und eine Pause machen.

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