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Chevrolet El Camino: Zwitterwesen als lässiger Nashornbulle mit V8

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Der Chevrolet El Camino ist halb Limousine, halb Lastwagen - und für viele weder Fisch noch Fleisch. Einem ehemaligen Austauschschüler sind solche Spitzfindigkeiten egal. Denn ohne diesen Wagen wäre der Sommer im Jahr 1980 ein anderer gewesen.

Wie ein Messer durchschneidet der Highway die unendlich erscheinende Prärie im US-Bundesstaat Nord Dakota. Ehemaliges Indianerland, durch das bis vor nicht allzu langer Zeit riesige Büffelherden zogen, jetzt eingezäuntes Farmland, bibelfest und patriotisch. Kaum ein Haus, von dem nicht die Landesfahne weht, wo hölzerne Kirchtürme neben riesigen Getreidesilos die einzigen Bauwerke mit mehr als zwei Stockwerken sind und wo Männer es lange Zeit für ein Gerücht hielten, dass man in Detroit auch Autos ohne Ladefläche baut.

Die schönste Art, Weizensäcke zu transportieren

Dorthin hatte es mich 1980 als Austauschschüler verschlagen, nach Belcourt, einem Nest nahe der kanadischen Grenze. Bis zur nächsten nennenswerten Stadt waren es 100 Meilen. Kurz nach meiner Ankunft erstand mein Gastbruder Steve einen 1971er Chevrolet El Camino. Nun waren also auch wir standesgemäß motorisiert. Besser noch: Dieser Chevrolet El Camino wirkte zwischen all den plumpen, unbequemen Lastwagen, die kaum mehr Charme versprühten als eine heruntergewirtschaftete Blockhütte, so fein und einladend wie eine Loge in Nashvilles Gran Ole Opry. Auf einmal waren wir Helden, zumindest in diesem Sommer.

Rund 30 Jahre später. Die Aussicht, abermals einem 71er Chevrolet El Camino zu begegnen, lockt mich zu einem Händler in die Pfalz. Ein mutiger Mann. Denn in den USA traut sich schon lange kein Autoverkäufer mehr, einen Chevrolet El Camino auf den Hof zu stellen. Der El Camino ist in der automobilen Hierarchie weit nach unten durchgereicht worden und leidet in der Neuen Welt nachhaltig unter einem massiven Imageproblem. Dabei will so ein Chevrolet El Camino streng genommen gar kein richtiges Arbeitstier sein.

Wer wie Chevrolet 1959 aus der Impala-Limousine einen Lastwagen schneidert, ohne gleichzeitig Fahrwerk und Rahmen dem neuen Aufgabenbereich anzupassen, kann nicht ausschließlich Nutzwert im Sinn haben. Beim Design der ersten Chevrolet El Camino-Generation verzichtete man nicht einmal auf die damals modischen Heckflossen. Ein Heavy-Duty-Pick-up sieht anders aus, aber viel stylischer als mit einem Chevrolet El Camino ließen sich ein paar Säcke Weizen auf einer Pritsche bis dahin nicht transportieren.

El Camino: Totgesagte leben länger

Sehr viel schneller auch nicht, denn auf Wunsch wuchtete ein 348er-Bigblock mit über 300 PS den Chevrolet El Camino von Ampel zu Ampel. Dieses Konzept hatte schon beim großen Konkurrenten Ford funktioniert, der bereits zwei Jahre zuvor den Ranchero vorgestellt hatte - einen Pick-up auf Basis eines Pkw. Angesichts der immensen GM-Absatzzahlen war der Chevrolet El Camino jedoch ein Flop. Nach nur zwei Jahren Bauzeit und rund 36.000 verkauften Exemplaren stoppte Chevrolet 1961 dieses Projekt - der erste Chevrolet El Camino wurde beerdigt.

Doch wie man gerade auch im Wilden Westen weiß, leben Totgesagte länger - auch der Chevrolet El Camino. Der anhaltende Erfolg von Ford mit dem Ranchero hatte General Motors dann offensichtlich doch keine Ruhe gelassen. 1964 überraschte Chevrolet die Nation mit einer neuen El Camino-Generation, jetzt auf Basis der Chevelle-Baureihe. Pritschen-Fans konnten bald auf deren sämtliche Ausstattungs- und Motorvarianten zurückgreifen. Dazu gehörte ab 1968 auch ein 396er-Super-Sport-Triebwerk mit rund 375 SAE-PS. Warum nun auf einmal die Verkaufszahlen des Chevrolet El Camino stimmten, gehört zu den Unberechenbarkeiten im Automobilgeschäft. Die Händler konnten sich nicht einmal beklagen, als der Chevrolet El Camino ab 1978 in Sachen Ausmaß und Leistung allmählich einer Schrumpfkur unterzogen wurde und bis zur Produktionseinstellung im Jahr 1987 ein verkappter Chevrolet Malibu war.

Fahrer und Beifahrer sitzen in Rufweite 

Zurück in die Pfalz - mit dem Chevrolet El Camino. Riesige Heuballen auf den abgeernteten Feldern, hölzerne Strommasten, Pferdekoppeln. Blendet man den in langen Reihen gepflanzten Wein aus, erinnert das Land - eine gehörige Portion Fantasie vorausgesetzt - ein wenig an Wisconsin, Iowa oder Illinois. Nur sind die Straßen dort von einem anderem Kaliber und passen viel besser zu dem 1,91 Meter breiten Chevrolet El Camino, dessen einfache und schnörkellose Linie auf Anhieb gefällt. Fahrer und Beifahrer sitzen im Chevrolet El Camino auf der durchgehenden Bank gerade noch in Rufweite zueinander und genießen mehr Wohnraum als in den meisten mitteleuropäischen Kleinwagen mit zwei Sitzreihen. Direkt hinter der Chevrolet El Camino-Besatzung erstreckt sich die Ladefläche. Zwei Meter lang und einsfünfzig breit. Sicherlich keine ernsthafte Arbeitsplatte für einen nordamerikanischen Farmer, der gewohnt ist, huckepack stets einen Mähdrescher mit umherzuschleppen. In Deutschland kommt man bei der Chevrolet El Camino-Ladefläche jedoch rasch ins Grübeln. Ob man beispielsweise ein Transportgewerbe aufziehen sollte.

Aufbäumen wie ein Nashornbulle

Doch solche Planspiele haben Zeit bis morgen. Oder übermorgen. Im gleichen Moment, in dem der Automatikschalthebel am Lenkrad des Chevrolet El Camino auf D steht, der rechte Fuß das Gaspedal sachte in Richtung Bodenblech drückt und sich der Chevrolet El Camino nach einem kurzen Aufbäumen lässig wie ein Nashornbulle in Bewegung setzt, vermittelt dieses Triebwerk jene Art von grandioser Souveränität, die nur einem großen V8 zu eigen ist. Und die sich auf wundersame Art und Weise auf den Fahrer überträgt, der im nächsten Augenblick das Wort Stress zumindest für die Dauer der Fahrt im Chevrolet El Camino aus seinem Vokabular streichen möchte. Für diesen Wohlfühlservice muss sich das gusseiserne Aggregat im Chevrolet El Camino, welches noch aus der automobilen Steinzeit stammt, nicht einmal anstrengen. Wer 176 PS aus fünfkommasieben Liter Hubraum zaubert, ist und bleibt ein fauler Hund. Eine Klimaanlage fehlt im Chevrolet El Camino. Ein Drehzahlmesser ebenso. Dieser wird allerdings auch nicht vermisst, weil der Chevrolet El Camino-Fahrer sofort spürt, dass dieser Motor quasi ab Standgas Berge versetzen könnte und es eigentlich auch niemand ernsthaft interessiert, ob er dieses nun bei 1.500 oder 2.500 Umdrehungen erledigt.

Eine Anleitung für den El Camino ist nicht nötig

Auf die Tankuhr des Chevrolet El Camino will man dagegen gar nicht erst schauen. Ernsthafte Sorgen über den Benzinverbrauch waren 1971 in den USA ebenso undenkbar wie ein afro-amerikanischer Kandidat für das Amt des Präsidenten. Die restlichen Anzeigen und Bedienelemente sind großzügig über dem Kunststoff-Instrumentenbrett des Chevrolet El Camino verteilt. Eine Uhr, Zigarettenanzünder, drei Schieberegler für die Heizung, zwei Drehknöpfe für das Radio und einer fürs Licht. Moderne Autos verfügen über mindestens doppelt so viele Funktionstasten allein auf dem Lenkrad. Die Chevrolet El Camino-Bedienungsanleitung für einen ließe sich dagegen auf einem Bierdeckel verfassen.

Spätestens nach einer halben Stunde Fahrt kennt man den Chevrolet El Camino dann auch wie einen guten Freund. Trotz seiner Größe lässt er sich dank einer leichtgängigen Servolenkung mit zwei Fingerspitzen selbst durch die engen Gassen eines Pfälzer Weinorts zirkeln. Dabei klingt er nie aufdringlich oder bedrohlich, sondern einfach nur souverän. Wenden und einparken? Nicht viele Autos sind so übersichtlich wie der Chevrolet El Camino. Mit hohem Tempo oder zu schnell gefahrenen Kurven kann er dagegen nicht umgehen. Dann wehrt er sich, fängt zu schaukeln an, untersteuert leicht. Aber das verzeihen wir ihm. Weil er dieses würdevolle Über-die-Straße-Gleiten so gut beherrscht, dass sein Fahrer fast schon automatisch nach einem Umweg Ausschau hält. Damit die Chevrolet El Camino-Tour möglichst lange dauert. Auf einmal sind wir wieder Helden.

 

Quelle: Motor Klassik

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