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Mille Miglia 2017: Klassik-Rallye mit Vollgas - Mille Grazie, Mille Miglia

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Wonne und Wahnsinn verschmelzen zu einem Rausch aus Blech, Öl und Schweiß. Die Mille Miglia mischt auf unvergleichliche Weise Autoklassiker und Adrenalin. Wir rasten mit.

Mille Miglia 2017: MOTOR-TALK fuhr die Rallye im Mercedes 300 SL Flügeltürer Mille Miglia 2017: MOTOR-TALK fuhr die Rallye im Mercedes 300 SL Flügeltürer Quelle: Daimler

Brescia – Es ist das Italienische. Die Schönheit der Landschaft, das Jubeln der Tifosi, die Warmherzigkeit der Polizei. Das Fehlen von Ordnung, der einzigartige Klang. Mille Miglia. Was sich holprig liest, gleitet wie eine sanfte Welle über die Zunge. Sie steht für ein Rennen, wie es längst keines mehr gibt.

Blech-Preziosen, fast jede einzelne so wertvoll wie vielleicht zehn, zwanzig Stadtvillen, rasen am Grenzbereich ihrer Leistungsfähigkeit. Mit durchgetretenem Gaspedal, dröhnenden Motoren, hupenden Fanfaren. Ein viertägiges Spektakel, das sich für all die, die nur davon lesen, kaum einfangen lässt.

Autos, die sonst als Motiv gerahmter Plakate Schrauberwerkstätten aufwerten, Autos, die man mit Blicken in Museen liebkost, weil sie so selten und anmutig sind, diese Autos entfesseln auf der Mille ihre ureigenste Bestimmung. Sie rasen, jagen, donnern, sprotzen über 1.000 Meilen und vereinen sich zu einer Sinfonie der Geschwindigkeit.

Draufgänger und Gentlemen

Jaguar XK 120 OTS Roadster von 1950: Der 3,4-Liter-Sechszylinder schafft Tempo 192 Jaguar XK 120 OTS Roadster von 1950: Der 3,4-Liter-Sechszylinder schafft Tempo 192 Quelle: 1000miglia.it

Wobei, das mit den 1.000 Meilen stimmt gar nicht mehr. Aber ob nun 1.600 (ursprünglich) oder 1.784 Kilometer (2017) – nebensächlich. 80, 90 Prozent der Teilnehmer sind schwerreich, die Autos sowieso unbezahlbar. Mitmachen dürfen bei der Neuauflage der Mille nur Modelle, die bei der ursprüngliche Wettfahrt von 1927 bis 1957 mindestens einmal am Start standen. Damals galt die Wettfahrt als eine der spektakulärsten, neben der Targa Florio und den 2.000 Kilometern durch Deutschland.

Rennen wie diese dienten den Autoherstellern dazu, ihre wohlhabenden Kunden von der Ausdauer und Schnelligkeit ihrer Fahrzeuge zu überzeugen. Die Piloten waren Draufgänger, Gentlemen mit Sucht nach Heldentum. Viele starben. Stirling Moss überlebte und wurde mit einem Mercedes 300 SLR 1955 zur Legende. Auch, weil Ferrari beim Reifenwechsel patzte (die Mechaniker hatten dem führenden Paolo Marzotto eine falsche Radgröße mitgegeben) und Hans Herrmann verunfallte. Zwei Jahre später endete die erste Serie der Mille Miglia. Die durch das Land rasenden PS-Boliden forderten zu viele Todesopfer in und rund um die Autos.

Auch deshalb wurden Moss und Mercedes mit ihrer Rekordzeit zur Legende. Das Serienauto des Renn-SLR, der 300 SL Coupé, riß die Menschen aus den Couchecken. Die aufschwingenden Türen, konstruktiv bedingt, verliehen diesem Wagen die Flügel, durch die Träume der Bürger aller Länder zu schweben. Konstruiert von Ingenieuren, die den Krieg überlebt hatten, geliebt von Menschen, für die schon ein Käfer Sorglosigkeit und Freiheit bedeutete.

Mille ist nur einmal im Jahr

Heute befinden sich die Luxusrenner dieser Generation erneut im Besitz reicher Mitbürger, die sie ein- bis zweimal im Jahr auf die Straße lassen. Aber nur bei der Mille entfesselt sich ihre unbändige Kraft aus sechs, acht oder mehr Zylindern. Glitzern die angegilbten Logos in der Sonne, rauscht Benzin wie einst durch die Vergaser. 20, 25 Liter auf 100 Kilometer. Weniger ist es selten.

Stau und Sonne mag unser Flügel nicht. Im Prüfungsstau schieben wir ihn deshalb Stau und Sonne mag unser Flügel nicht. Im Prüfungsstau schieben wir ihn deshalb Quelle: MOTOR-TALK Die Luft flirrt von der Wärme der Triebwerke, es riecht nach verbranntem und verdampftem Benzin. Die Reichen sind auch die Mutigen, die mit ihren traumhaften Wagen von Brescia nach Rom und zurück fahren. In diesem Jahr gab es viel zu feiern bei der Mille: Das 90. Jahr seit dem ersten Start, das 40. Jahr seit der Wiederbelebung als Klassik-Rallye.

Wer dabei an behäbige Ausfahrten denkt, wie sie die deutschen Oldtimer-Rallyes darstellen, denkt falsch. Keine Klassik-Rallye fordert so viel wie die Mille. Das Team MOTOR-TALK startet mit einem weinroten Mercedes 300 SL, 215 PS stark, zweite Hand, rund 1,8 Millionen Euro teuer. Nach 8 Stunden sind wir am Ziel der ersten Etappe. Tag 2 besteht aus 13, 14 Stunden Netto-Fahrzeit, Tag 3 ebenso, erst am Sonntag entspannt sich die Tour.

Bis zum Ziel sind es nur noch 8 Stunden. 45 Stunden Vollrausch mit 339 anderen Fahrzeugen, das ergäbe im Schnitt eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 38 km/h. Tatsächlich fahren wir schneller, viel schneller. Um dann regelmäßig an der nächsten Prüfung zu warten. Die zehntausend Fans an der Strecke kennen keine Tempolimits. Sie pushen, klatschen, fordern die Piloten auf, mehr Gas zu geben. Ob Tempo 50, 70 oder 100. Es soll nach dem Willen der Veranstalter immer schneller gehen.

Im 300 SL weht kaum ein Lüftchen

Autobahnen sehen wir selten, und wenn dann kurz. Die Strecke führt anspruchsvoll durch Industrievororte, in bezaubernde Altstädtchen und über Serpentinen. Postkartenmotive verschwimmen im Zeitdruck. Obwohl wir selbst kaum Zeit haben, die Umgebung zu genießen, entstehen die fabelhaften Bilder, die so viel Sehnsucht bei den Daheimgebliebenen wecken. Ein paar tausend deutsche Fans postieren sich immer wieder entlang der Strecke. Fanclubs der Marken Alfa, NSU, Fiat, Audi, ach, aller schönen Autos. Wir sehen sie immer wieder. Man hupt sich freundlich zu.

Dabei kämpft das Team MOTOR-TALK mit den Fahrbedingungen der 1950er-Jahre. Im 300 SL weht kaum ein Lüftchen - trotz dauergeöffneter Fenster, die Steckscheiben liegen im Fond. Dazu strahlt die Wärme des drehfreudigen Sechszylinders nach innen.

Die schwitzenden Hände suchen Halt am feuchten, dünnen Bakelit-Lenkrad. Im Benz gibt es weder Gurte noch Sitze mit Seitenhalt. Von Kurve zu Kurve verkeilen wir uns neu, mit Knien, Armen, Beinen. Klammern uns an Fensterrahmen und Haltegriffe. Constantin zählt nach vier Tagen zwei handtellergroße blaue Flecken an den Arminnenseiten.

Die Szenerie ist surreal. Mit einem solchen Auto so zu fahren, also den zweiten Gang hochzudrehen, aus dem vierten Gang bei 3.000 Umdrehungen runterzuschalten, das Getriebe surrt, der Motor heult auf und beschleunigt dieses edle Gefährt wie einen, ja, Sportwagen der Gegenwart. 130 km/h zeigt der Tacho. Wieder in den Vierten, um weiter Tempo zu geben, immer weiter, schneller.

2017 fuhren 46 Alfa Romeo die Mille Miglia. Drei Stück stellte der Hersteller selbst, einer gewann die Rallye 2017 fuhren 46 Alfa Romeo die Mille Miglia. Drei Stück stellte der Hersteller selbst, einer gewann die Rallye Quelle: 1000miglia.it Ja, es ginge langsamer. Mehr Landschaft, weniger Motorsport. So beschreibt die offizielle Homepage auf italienisch die Rallye. Aber wer die Umgebung genießen will, schafft die Etappen nicht in der vorgegebenen Zeit. Und alte Sportwagen erlebt man am besten wie neue. Indem man sie fordert.

Fans, Freunde, Polizei

Wir verschieben den Genuss auf die Momente, die dafür Zeit lassen. Etwa die Minuten vor dem Etappenende, wenn uns die Tifosi zuwinken. Bei jedem Stopp signieren wir Flaggen und Flyer. Wer den Motor heulen lässt, bekommt mehr Applaus. Einige schenken uns kleine Andenken: Nudeln, Wein, Kekse, Nüsse. An diesen vier Tagen lebt Italien den Motorsport wie den Fußball zur Weltmeisterschaft.

Während viele nur zuschauen, wollen andere dabei sein. Sie holen ihre Schätze aus Blech und Chrom aus den Garagen und reihen sich im Feld ein. Uns begleiten neue und alte Schmuckstücke, von Fiat bis Ferrari. Einige räumen uns die Straßen frei und helfen beim Überholen. Mittendrin: die italienische Polizei. Für Wertungsprüfungen sperrt sie Dörfer ab. Dazwischen begleitet sie uns auf Motorrädern, warnt den Gegenverkehr und zieht uns im Slalom um reguläre Autos. Bitte, sagt diese Geste, bitte fahren Sie flott, Signore. Machen Sie Tempo, prego. Es ist doch die Mille.

Dazwischen flitzen Gedanken an den Augen vorbei. Was, wenn wir den Baum, die Laterne touchieren, wenn es doch mal zu eng wird beim Überholen. Gurte? Nein. Kopfstützen, Airbags, ABS, ESP? Haha. Was so schön ist wie dieses Auto, das kann doch nicht gefährlich sein. So dachte man, damals, 10 Jahre nach dem Weltkrieg.

Das originale Straßenrennen lebt

Alle Verkehrsregeln sind zu beachten. Das sagt das Reglement der Mille. Wir haben unterschrieben, dass wir das wissen, und damit endet die ernsthafte Auslegung von Regeln. Auf der Rallye hält sich nicht mal die Polizei daran. Nur wenige Straßen sind gesperrt, alle Autos flitzen zwischen Berufstätigen und Wochenendlern durch den Verkehr. Sehr oft stehen bunt gekleidete Menschen aus dem Rallye-Organisationsteam an roten Ampeln und winken uns durch. Das wäre mal was für Berlin.

Flott genügt den meisten Teilnehmern nicht. Sie rasen, drängeln und quetschen sich in winzige Lücken. Einige fahren ein viertägiges Sprintrennen. Überholen trotz Gegenverkehr, mit 130 Sachen durch Städte, Vollgas bei jeder Gelegenheit. Punkte in der Wertung bringt das nicht.

International: Daumen hoch! International: Daumen hoch! Quelle: MOTOR-TALK In diesen Momenten wirkt die Mille wie ein Ballermann-Urlaub für Reiche. Ein paar Tage lang die Sau rauslassen, ohne Rücksicht und Verantwortung. Einige Städte wollen die Autos deshalb nicht mehr bei sich haben. Es ist ein Schatten, der auf dieser wundervollen Veranstaltung lastet. Der Schatten des Scheiterns. Was wäre, wenn wirklich etwas passiert. Leben kann man nicht kaufen, Verantwortung auch nicht, auch nicht mit Millionen.

Das Risiko und die Faszination

Das ist die Ambivalenz dieses Rennens. Hier diese wundervollen Autos, in wunderschöner Umgebung. Die zeigen dürfen und müssen, wozu sie gebaut sind. Nie zuvor strahlte der Mercedes-Stern heller als in diesen vier Tagen Rallye. Welche Perfektion, welche Qualität legten die Männer aus Stuttgart damals in dieses Auto. Das Kunstwerk, der Gran Turismo, der Rennwagen und Dauerläufer. Das von uns hart rangenommene Aggregat ist im Originalzustand. Die meisten der hier fahrenden 300 SL haben schon mehr als zehn Mille auf dem Tacho, also gut 20.000 harte Kilometer in den vergangenen zehn Jahren.

Die Kehrseite ist das Risiko für Blech und Mensch, das immer entsteht, wenn sich beide mit zu großer Geschwindigkeit annähern. Dass sie das wollen, liegt in der menschlichen, kindlichen Begeisterung für Beschleunigung, seit tausenden Jahren. Die Nähe suchenden Piloten kennen das Risiko und spielen zum Teil damit, als wären Leben nicht zerbrechlich. Bellof, der Hundskerl, überlebte es nicht. Senna scheiterte, und mit ihnen viele Tausende mehr. Die diesjährige Mille bleibt ohne Zerbrochenes. Es bleibt nur Glanz und Gloria. In Form von 440 Autos.

440 Autos bei der Mille Miglia 2017

Das Starterfeld der Mille Miglia sieht noch heute aus wie ein Querschnitt der ursprünglichen Rennen. Aus 705 zulässigen Bewerbungen wählten die Veranstalter 440 Fahrzeuge aus. Mit dabei: 46 Alfa Romeo, 36 Fiat, jeweils 35 Lancia und Mercedes sowie 21 Jaguar und Porsche. Insgesamt sind 82 Marken vertreten. Passende Autos gibt es von 92 Herstellern. Selten waren so viele ungewöhnliche Ferrari im Feld. Die Marke feiert in diesem Jahr ihr 70. Jubiläum.

Und immer wieder: Tanken - und leuchten, damit nichts daneben geht. Der Tank fasst 100 Liter und hält knapp 500 Kilometer Und immer wieder: Tanken - und leuchten, damit nichts daneben geht. Der Tank fasst 100 Liter und hält knapp 500 Kilometer Quelle: MOTOR-TALK Traditionell trägt auf der Mille ein Auto der italienischen Marke OM (Officine Meccaniche) die Startnummer 1. Drei OM-Tourenwagen siegten bei der ersten Mille Miglia. Seitdem starten jene Autos zuerst. 2017 fährt ein OM 665 Sport Superba 2000 mit 65 PS von 1927 voran. Am Steuer: Rekordchampion Giuliano Cané. 2010 gewann er seine zehnte Mille Miglia, 2017 reicht es für den 17. Platz.

Dass Teilnehmer mit jüngeren, sprich moderneren Autos technisch Vorteile haben, gleicht der Veranstalter bei Prüfungen über Koeffizienten aus. Bedeutet: Jeder Fehler zählt in einem 20 Jahre jüngeren Modell 1,4-fach. Team MOTOR-TALK und der Mercedes 300er SL enden auf Platz 128.

Was bleibt? Ein einzigartiges Erlebnis. Der verstärkte Wunsch, ein Auto aus dieser vielleicht goldensten Zeit von Mercedes zu besitzen. Fahrfähige Mercedes-Ponton-Modelle findet man mit Glück bei mobile.de ab 16.000 Euro. 190er-SL ab 200.000 Euro, Flügeltürer ab 1,3 Millionen Euro. Sie alle sind Zeugen einer Epoche, in der Qualität das höchste Gut der Marke Mercedes war. Lange vor Leasing, Marketing, Mobilitätsplattformen, Ausstattungsoptionen und vielem anderen.

Bei allen Untertönen: Die Mille ist ein einzigartiges Ereignis, ein Rennen, bei dem die Zuschauer mitwirken. Sicher kommen wir wieder. Versprochen. Als Fans und Tifosi, als Klatscher und Huper, als Menschen mit Benzin im Blut.

Mille Grazie, Mille Miglia.

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