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Rolls-Royce Wraith: Unterwegs auf schottischen Zuverlässigkeitsstraßen - Es gibt nur einmal ganz oben

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Ahnung von Autos hatte 1907 im Grunde niemand. Klar war nur, das beste Auto der Welt ist der Rolls-Royce Silver Ghost. Warum? Das versuchen wir 108 Jahre später zu verstehen.

Der Rolls-Royce Wraith auf den Scottish Reliability Trials. MOTOR-TALK fuhr dorthin, wo der gute Ruf der Marke begründet wurde Der Rolls-Royce Wraith auf den Scottish Reliability Trials. MOTOR-TALK fuhr dorthin, wo der gute Ruf der Marke begründet wurde Quelle: Rolls-Royce

Von Jim Meininghaus

Glasgow - Meine Eltern waren Hippies. Ich sitze in einem Rolls-Royce. Einen größeren Gegensatz kann es in meinem Leben nicht mehr geben. Gut, es ist nicht mein Rolls-Royce. Insofern, Mama, Du kannst wieder ausatmen. Ich atme tief ein, den Duft à la Royce, der wie das teuerste Autoparfüm riecht und das auch ist.

Hippiekind hin oder her, ich wähle den Beifahrersitz, um den Wagen der Reichen kennenzulernen. Nicht aus falscher Bescheidenheit. Sondern aus wahrer Begeisterung. Mein Leitsatz im Job lautet: „Pay attention to details“, "Achte auf Details.“ Das geht in keinem Auto der Welt besser als in einem Rolls-Royce. Das war schon vor 100 Jahren so, als der Maharadscha von Indien 20 Prozent der Jahresproduktion der noblen Briten aufkaufte und mit Gold, Juwelen und Tierfellen verzieren ließ.

632 PS und 800 Newtonmeter lassen den Wraith in 4,6 Sekunden auf 100 km/h sprinten. Doch im Kokon aus Leder und edlem Holz gibt es mehr zu entdecken als Geschwindigkeit 632 PS und 800 Newtonmeter lassen den Wraith in 4,6 Sekunden auf 100 km/h sprinten. Doch im Kokon aus Leder und edlem Holz gibt es mehr zu entdecken als Geschwindigkeit Quelle: Rolls-Royce Mein heutiges Gefährt wirkt dagegen fußvolkhaft. Nur etwas mehr als 300.000 Euro kostet dieser 2015er Rolls-Royce Wraith mit ein bissel Ausstattung. Das Coupé des Ghost ist ein Zweitürer, passt auch. Kinder kann sich mit so einem Auto eh keiner mehr leisten. Kurze Notiz nach Hause: Schatz, ich kaufe keinen, versprochen. Aber die 632 PS, die jucken in schwachen Momenten verdammt unter meiner Fußsohle. Dazu später mehr.

Irgendwo im schottischen Nirgendwo

Zurück zu den Details. Nie in meinem Leben saß ich in einem Leder-Holz-Blech-Gebilde (und mehr ist ein Luxus-Auto dann doch nicht), das so exzellent verarbeitet war. Die Haut meiner Fingerspitzen möchte juchzen, so fein fühlt sich alles in diesem Innenraum an. Reden wir nicht über gegerbte Rinderhaut oder Chrom, das können andere ähnlich gut. Ein Rolls-Royce geht weiter. Wie die nicht sicht-, aber fühlbaren Plastikkanten (gibt es auch) entgratet wurden, wie die Nähte schmeicheln. Das hat etwas Bleibendes für dieses Auto, und mein persönliches Auto-Poesie-Album.

Unsere ausgedehnte Testfahrt beginnt im schottischen Nirgendwo. Wir befinden uns in Pitlochry, 112 Kilometer nördlich von Edinburgh. Unser Ziel ist Gleneagles Village. Laut Google Maps 65 Kilometer entfernt. Zum Glück führt uns unserer Reiseroute auf ausgedehnten 1.200 Kilometern dorthin.

6,5-Liter-V12, zwei Turbolader - wir gewöhnen uns ganz langsam aneinander 6,5-Liter-V12, zwei Turbolader - wir gewöhnen uns ganz langsam aneinander Quelle: Rolls-Royce Auf unserer Reise folgen wir Teilen der „Scottish Reliability Trials“ von 1907, einer 1.200 Kilometer langen Testroute, auf der der Schottische Automobilclub den ultimativen Test für Automobile seiner Zeit veranstaltete. In fünf Tagen ging es von Glasgow bis nach Inverness und Aberdeen und zurück – also im Grunde einmal komplett um und durch Schottland. Das Punktesystem war einfach. Jeder bekam 1.000 – und bei jedem Zwangsstopp wurden der Zeit entsprechend viele Punkte aberkannt.

Damals, vor 108 Jahren

Damals, vor 108 Jahren, schickte eine junge Automarke namens Rolls-Royce Ltd. ihr erstes Auto auf diesen Test. Der 40/50 hp (7,0-Liter-Sechszylinder, später auch Silver Ghost genannt) mit dem Kennzeichen AX201 meisterte die 1.200 Kilometer ohne einen Mangel. Nur ein Punkt wurde dem Auto mit der Barker-Karosserie in der Zuverlässigkeitskategorie abgezogen – weil der Fahrer aus Versehen die Spritzufuhr abschaltete. Dieses Ergebnis war damals in etwa so gut wie heute mit einem Golf die Million voll zu machen.

Als der Rolls später nach London zurückkehrte, galt er als bestes Auto der Welt. Rudyard Kipling (kennt jedes Kind als Autor des Dschungelbuchs) gehörte zu den ersten Fans und Käufern der Marke. Der Autor hatte damals so viel Pech mit den ersten Versuchen von Automobilen, dass er sich 1911 eines kaufte, das funktioniert. Er sagte damals: "Ein Rolls-Royce ist das einzige Auto, das ich mir leisten kann. Weil es niemals liegenbleibt.“ Chassis und Antrieb eines Silver Ghost kosteten damals mehr als 800 Pfund (heute ca. 122.000 Euro) – die Karosserie musste wie üblich zusätzlich bei einem Karosseriebauer in Auftrag gegeben werden.

Rolls-Royce Wraith - Detail Rolls-Royce Wraith - Detail Quelle: Rolls-Royce

Und heute?

Schottland ist groß und sehr einsam. Mittlerweile ruht mein Gesäß auf dem rechten Vordersitz - hinterm Steuer. Mein Schuh streichelt das Gaspedal mit der Liebe eines Riesen zu seinem Kätzchen. Nur, dass mein Fuß das Kätzchen ist, der Bi-Turbo-Zwölfzylinder der Riese. Wie soll man heute, im Jahr 2015, mit diesem Kraftwerk klar kommen, auf diesen Sträßchen, die schon 1907 nur Einbahn-Straßenverkehr kannten?

Um es vorweg zu nehmen. Ich habe viele Jahre für VW, Audi, Porsche und Bentley gearbeitet. Ich bin kein Hasenfuß. Aber dieses Auto, das nötigt Dir Respekt in allen Lebenslagen ab. Anfangs denkst Du, die 5,27 Meter Länge, die sind wirklich zu viel. Und dann auf den schottischen Dorfstraßen erinnerst Du Dich an die knapp zwei Meter Breite. So viel Blech, so viel Kraft, das gehört morgens um 3 Uhr auf die A9, aber nicht zwischen schottische Vorgärtchen mit einem zarten Asphaltband vor dem Gartentor.

Dreimal trete ich den Pin tief in die Bodenmatte. Dreimal jongliere ich das 2,4-Tonnen-Schiff durch Straßen, die für Tempo 30 gebaut wurden. Nicht für 250 km/h. In der Theorie dauert ein Sprint von 0 auf 100 km/h im Wraith 4,6 Sekunden. Schnell genug, um vor jeder Kurve den Adrenalinvorrat für drei Jahre auszuschütten. Zu kurz, um durchzurechnen, wie lange ich arbeiten müsste, um einen geschrotteten Rolls abzubezahlen. Ist auch besser so.

Mehr als 280.000 Euro bewege ich durch Kurven, die selbst für einen Fiat Panda eng wären Mehr als 280.000 Euro bewege ich durch Kurven, die selbst für einen Fiat Panda eng wären Quelle: Rolls-Royce So außergewöhnlich, so wertvoll, so wundervoll schnell fährt der Wraith, dass mir eine andere Frage durch den Kopf schießt. Gibt es bei Tinder eigentlich reiche Erbtanten?

Epilog

Laut Preisliste kostet der Wraith mindestens 279.531 Euro. Nicht zu viel für das, was der Besitzer bekommt. Leistung, Eleganz, tief ins Blech geprägtes britisches Understatement. In einem Rolls, egal in welchem, reist man anders. Die Reise wird zum Ziel, das Ziel selbst unwichtig.

Rasen, Gas geben, das alles verwässert und wird sinnlos in diesem Kokon aus Leder und Holz. Wie der lächerliche Flirtversuch bei der Schulschönsten in der 12. Klasse. Kann man machen, führt aber ins Nichts. Entscheidend ist, dass man nicht komfortabler über Stock und Stein rollen kann. Auch Mercedes, BMW, Bentley bauen fantastische Autos. Aber wer wurde Zweiter beim 100-Meter-Finale in London? Wer ist zweiterfolgreichster Formel-1-Fahrer? Ganz oben gibt es nur einmal. Und gerade bin ich ganz oben, in Schottland.

Rolls-Royce Wraith – Technische Daten

  • Modell: Rolls-Royce Wraith
  • Motor: 6,5-Liter-V12
  • Getriebe: Achtgang-Automatik (von ZF)
  • Leistung: 632 PS
  • Drehmoment: 800 Nm
  • Verbrauch laut NEFZ: 14 l/100 km
  • Testverbrauch: 11,4 l
  • CO2: 327 g/km
  • 0 – 100 km/h: 4,6 s
  • Höchstgeschwindigkeit: 250 km/h
  • Kofferraumvolumen: 470 l
  • Länge: 5,26 m
  • Breite: 1,94 m
  • Höhe: 1,50 m
  • Leergewicht: 2.360 kg
  • Preis: ab 279.531 Euro

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