Berlins ungewöhnlichste Taxis: Mercedes W110 Heckflosse 190d

Mit der Heckflosse zum Berghain

MOTOR-TALK

verfasst am Wed Mar 15 10:21:00 CET 2017

Manchmal steht ein besonderes Taxi am Stand. Diese Autos und ihre Fahrer stellt MOTOR-TALK vor. Diesmal: ein Mercedes 190d von 1964 und sein schriller Fahrer Ralf Werner.

Berlins ungewöhnlichste Taxis: Ralf Werner und seine Mercedes Heckflosse 190d namens "Nepomuk"
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK

Von Haiko Prengel

Berlin – Autos sind zum Fahren da. Ein Auto, das diese Schrauberweisheit eindrucksvoll verkörpert, ist der Mercedes 190d von Ralf Werner. Seit mehr als einem halben Jahrhundert ist seine elfenbeinfarbene Heckflosse, Baujahr 1964, auf den Straßen unterwegs. Die Laufleistung: eine Million und achttausend Kilometer. Das entspricht rund 25 Erdumrundungen. Ein Relikt, das längst im Museum stehen könnte, als Hommage an die Solidität alter Vorkammer-Diesel.

Ralf Werner fährt lieber mit seinem Auto, und das (fast) jeden Tag. „Weil's mir Spaß macht“, sagt der Berliner lapidar. Werner ist Taxifahrer in der Hauptstadt, aber nicht irgendeiner. Er sei bekannt wie „ein bunter Hund“, sagt er über sich selbst, und das hat zwei Gründe. Erstens ist der 79-Jährige mit seinem Irokesenschnitt und den Sandalen für sich schon ein Original. Werner fährt stets barfuß, auch im Winter. Aber erst durch „Nepomuk“, wie er die betagte Heckflosse liebevoll nennt, ist das Chauffeurs-Duo aus dem Stadtteil Reinickendorf komplett.

Wenn die beiden aufkreuzen, recken wildfremde Passanten plötzlich den Daumen hoch und zücken ihr Smartphone, um ein paar Erinnerungsfotos zu schießen. Noch glücklicher sind die, die Werner für eine Mitfahrt an den Straßenrand winken und in den Uralt-Benz einsteigen dürfen.

Barfuß-Sandalen, Irokesenschnitt: Zusammen mit seiner Heckflosse Nepomuk ist Taxifahrer Ralf Werner ein Berliner Original
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK

Ralf Werner chauffiert die Gäste zum Normaltarif

„Meine Fahrgäste sind alle happy“, meint Werner. Wer hat sonst schon die Gelegenheit, in einem alten Mercedes aus der Wirtschaftswunderzeit durch Berlin kutschiert zu werden. Klar, in der Hauptstadt kann man Oldtimer mieten, aber das ist teuer. Ralf Werner bietet dagegen Fahrten zum „Normal-Tarif“ an, wie ein Aufkleber über den Seitenschwellern seines alten Daimlers verspricht. Davor steht mit der Hand gemalt: „Nepomuk und Ralf“.

Das klingt nach einer echten Romanze – bestätigt auch Werners Ehefrau Anette. Der Wagen sei wie ein Familienmitglied. Werner und Anette sind seit 35 Jahren verheiratet, die Heckflosse kam 1990 ins Haus beziehungsweise auf den Parkplatz davor.

Damals war gerade die Mauer gefallen und für West-Berliner Taxifahrer eröffnete sich ein riesiges neues Arbeitsgebiet. „Erst hatte ich Schiss, im Osten zu fahren, ich kannte die Straßen ja nicht“, gesteht Werner. „Das war Niemandsland für uns.“ Doch es gab ja Stadtpläne. Und nette Fahrgäste, die einem weiterhalfen.

Beim Taxifahren hört Ralf Werner am liebsten Oldies im Berliner Rundfunk, und manchmal auch Klassik-Radio
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK

Am liebsten ins Berghain

Heute kennt Werner auch Ost-Berlin wie seine Westentasche. „Ja, der ehemalige sowjetische Sektor ist mein Hauptkampfgebiet“, sagt Werner. Der 79-Jährige fährt am liebsten spätabends und nachts, weil die Straßen da schön frei sind. Und das Nachtleben pulsiert vor allem im Ostteil der Stadt. Dort gibt es die meisten Clubs - zum Beispiel das berühmt-berüchtigte Berghain. Den weltbekannten Elektrotempel steuert Ralf Werner besonders gerne an. Dann setzen sich verschwitzte Feierleute zu ihm in den Wagen und lassen sich nach Hause oder zur Afterhour bringen. Werner mag die jungen Leute: „Die sagen: Bei dir sitzt man ja wie auf einer alten Couch!“

Tatsächlich strahlen die weichen Sofasitze im Mercedes W110 einen ganz besonderen Komfort aus. Sie erinnern an die Gemütlichkeit der Adenauerzeit: 1961 brachte Daimler die Baureihe heraus. Die Fahrzeuge waren in der oberen Mittelklasse angesiedelt und ersetzten die „Ponton“-Baureihe.

Werners 190d hieß im Volksmund auch „Wanderdüne“. Bevor es losgeht, muss man das Aggregat erst einmal gemächlich vorglühen. Dabei war der zwei Liter große Selbstzünder einmal der schnellste Diesel der Welt und mit seinen 133 km/h Spitze deutlich schneller als ein VW Käfer. „Besonders Landwirte fuhren auf den Nagel-Benz ab“, erinnerte „Auto Bild Klassik“. Und böse Zungen hätten den 190 D in 190 H umgetauft: „Weil nicht selten steuerfreies Heizöl im Tank schwappte.“

Der mächtige Kühlergrill gehört zum Markenzeichen der Baureihe W110. Sie löste 1961 die Ponton-Modelle ab
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK

Mercedes 190d Heckflosse: 8,5 Liter Diesel

Ralf Werner tankt Diesel an der Zapfsäule, und davon gar nicht mal besonders viel. Sein Taxi verbrauche nur etwa 8,5 Liter, berichtet er. Viel weniger schaffen moderne Pkw auch nicht. Bei deutlich mehr Leistung natürlich. „Die Autos haben heutzutage doch viel zu viel PS“, findet Heckflossen-Fahrer Werner. Sein Sohn habe einen Firmenwagen mit 240 PS. „Das ist doch Wahnsinn!“

Dann lieber Wanderdüne. Als Kind wollte Werner eigentlich Lokomotivführer werden. Doch der Einstieg ins Taxigeschäft war vorgezeichnet. Der Urgroßvater arbeitete in Reinickendorf als Droschkenkutscher, der Großvater übernahm den Betrieb. Ein Foto in Werners Wohnung zeigt den Opa auf einem Pferdefuhrwerk. Damals waren die Taxis noch richtig umweltfreundlich, getankt wurde mit Hafer, erzählt Ralf Werner schmunzelnd.

Der Vater war dann schon mit richtigen Automobilen unterwegs, bis auch Sohn Ralf 1969 ins Taxi-Geschäft einstieg, zunächst als Angestellter bei seinem Vater. 1973 machte er sich dann selbständig mit seinem ersten eigenen Taxi: einer Mercedes Heckflosse.

„Ich fahre seit 1973 Heckflosse, weil ich alles selber machen kann“, sagt der gelernte Maschinenschlosser. Alle notwendigen Reparaturen erledigt er selbst, die Ersatzteile besorgt er sich bei einem Spezialisten für alte Daimler im Stadtteil Neukölln. „Den Fahrgästen sage ich immer: Mein Auto hat noch nie eine Werkstatt gesehen. Und eine Waschhalle auch noch nicht.“ Nein, Werner wäscht seinen Wagen klassisch mit Eimer und Lappen. Handwash only.

Ein bisschen Patina gehört für Ralf Werner dazu, wenn man älter wird – das gilt für Autos und Menschen gleichermaßen
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK

Ein paar geschweißte Bleche und Patina

Und der Unterboden? Der müsste doch längst von Schnee und Salz zerfressen sein. Natürlich sei der Wagen schon an der ein oder anderen Stelle mal geschweißt worden, räumt Ralf Werner ein.

Ein halbes Jahrhundert geht eben nicht spurlos an einem Wagen vorüber, auch wenn es eine grundsolide Heckflosse ist. Ein paar geschweißte Bleche hier, ein paar Rostnester dort: Ein bisschen Patina hat der betagte Daimler schon. „Na klar, das muss er ja auch“, sagt der Kult-Taxifahrer und lacht: „Ich habe ja auch Patina.“

Demnächst will Ralf Werner auch endlich mal das Berghain von innen kennen lernen. Bislang kennt der Taxifahrer die Berliner Clubs nur von außen. Ehefrau Annette ist noch etwas skeptisch, ob die Türsteher das junggebliebene Senioren-Pärchen auch hineinlassen werden. „Na klar kommen wir da rein“, ruft Ehegatte Werner und lacht. „Wir stylen uns uff!“ Ihr Taxi wird nach der Clubnacht schon draußen warten – die alte Heckflosse von 1964.

Hier weiterlesen: Peugeot 404 von 1963 als Taxi

Technische Daten: Mercedes-Benz 190d (1961-1965)

  • Motor: Vierzylinder-Diesel
  • Hubraum: 1.988 cm³
  • Leistung: 50 PS (40 kW)
  • Getriebe: Viergang-Lenkradschaltung
  • 0-100 km/h: 28 s
  • Höchstgeschwindigkeit: 133 km/h
  • Verbrauch: ca. 8,5 l/100 km
  • Leergewicht: 1.350 Kilogramm
  • Länge: 4,730 m
  • Breite: 1,795 m
  • Höhe: 1,495 m
  • Radstand:2,700 m
Den abschraubbaren Stern an seinem Mercedes 190d hat Ralf Werner selbst konstruiert – als Diebstahlschutz
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK
Für Ehepaar Werner gehört der alte Mercedes längst zur Familie. Die beiden nutzen den Wagen auch privat, zum Beispiel für Urlaubsfahrten bis nach Kroatien
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK
Barfuß-Sandalen, Irokesenschnitt: Zusammen mit seiner Heckflosse Nepomuk ist Taxifahrer Ralf Werner ein Berliner Original
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Der mächtige Kühlergrill gehört zum Markenzeichen der Baureihe W110. Sie löste 1961 die Ponton-Modelle ab
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK
Über eine Million Kilometer hat die Heckflosse auf dem Buckel. Dafür steht die Limousine noch ganz gut da
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Automobiles Kulturgut: Dank H-Kennzeichen darf der alte Diesel auch in der Berliner Umweltzone Fahrgäste kutschieren
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK
Im Berliner Westen steht Ralf Werner häufiger am Savignyplatz. Meist ist er aber im Osten unterwegs, denn dort pulsiert das Nachtleben
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK
Im Sommer wird das Taxi zur Reiselimousine – dann fahren die Werners mit dem alten Daimler bis nach Kroatien
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK
Zum gemütlichen Cockpit gehören stets auch ein paar Blumen und eine Kerze
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK
Auf diesem weichen Sofasitz verbringt Ralf Werner seine Nachtschichten
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK
Prominente Fahrgäste hatte Ralf Werner auch schon manche, zum Beispiel Harald Juhnke: „Am Theater am Kurfürstendamm stieg er mir ein.“
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK
Rotes Leder und viel Edelmetall: Das Interieur versprüht Sechziger-Jahre-Ambiente
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK
Die Lenkradschaltung war vor 50 Jahren zeitgemäß - Mercedes hat sie vor einigen Jahren zurückgebracht
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK
Beim Taxifahren hört Ralf Werner am liebsten Oldies im Berliner Rundfunk, und manchmal auch Klassik-Radio
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK
Ein bisschen Patina gehört für Ralf Werner dazu, wenn man älter wird – das gilt für Autos und Menschen gleichermaßen
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK
Mit seinem 190d ist Ralf Werner Mitglied im Verein der Heckflossenfreunde – dem größten deutschen Club für Fans klassischer Mercedes
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK
Guter Stern: Man kann davon ausgehen, dass Ralf Werners Heckflosse viele weitere Kilometer sammeln wird
Quelle: Haiko Prengel für MOTOR-TALK