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Serie "Deutsche Rennstrecken": Solitude - Hunderttausende Fans rund um die „Einsamkeit“

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Deutsche Rennstrecken sind asphaltierte Geschichte – von Tragödien und Triumphen, echtem Leben und Tod. Wir stellen Euch fünf Strecken vor. Heute: Solitude.

Start zum Solitude Grand Prix 1960 mit Dan Gurney und Joakim Bonnier auf Porsche und Graf Berghe von Trips auf Ferrari Start zum Solitude Grand Prix 1960 mit Dan Gurney und Joakim Bonnier auf Porsche und Graf Berghe von Trips auf Ferrari Quelle: Bernhard Völker

Von MOTOR-TALK-Reporter Ralf Schütze

Leonberg – „Solitude“ bedeutet Einsamkeit. Dieser Name passte im Jahr 1769 noch recht gut zu dem für Herzog Carl Eugens erbaute Schloss im Westen Stuttgarts. Später liebte nicht nur Giacomo Casanova die rauschenden Feste auf Schloss Solitude. Fast zwei Jahrhunderte später wird die „Einsamkeit“ zum Pilgerort für Hunderttausende Motorsportfans.

Die Fakten:

  • 11,4 Kilometer ist die Solitude lang
  • 1903: Erstes Bergrennen vom Stuttgarter Westbahnhof zum Schloss Solitude
  • 1935: Eröffnung Solitude-Ring auf abgesperrten öffentlichen Landstraßen
  • Höhepunkte heute: Solitude Revival (2015: 18./19. Juli) und Glemseck 101 (Motorradevent, 2015: 4. bis 6. September)

Nicht ganz die Nordschleife, aber auch herausragend: Mit anspruchsvollen 25 Links- und 15 Rechtskurven auf 11,4 Kilometern Landstraße verdient sich der Solitude-Rundkurs den Respekt von Racern aus aller Welt. Nach 20 Jahren Betrieb ist 1965 Schluss.

Beim Solitude Grand Prix 1964: Mike Hailwood auf MV Agusta Beim Solitude Grand Prix 1964: Mike Hailwood auf MV Agusta Quelle: Solitude Revival e.V.

1935: 500.000 Besucher

Heute treffen sich jedes Jahr im September rund 50.000 Fans zum „Glemseck 101“ und messen sich beispielsweise auf ihren Café Racern im Viertelmeile-Sprint. Gemessen an früheren Besucherzahlen ist das jedoch gar nichts. 1924 sahen 200.000 Menschen das alte Bergrennen hinauf zum Schloss. Ab 1935 explodierten die Zuschauerzahlen am Rundkurs bis auf geschätzte 500.000.

Die internationale Nachkriegsgeschichte der Solitude begann mit einer Tragödie. Als der deutsche Motorrad-Held H. P. Müller mit seiner 125er DKW an den Massen vorbeirauschte und alle Fans gleichzeitig aufsprangen, gab das Gebälk der C-Tribüne nach. Es begrub Hunderte von Zuschauern unter sich, viele Menschen wurden verletzt. Müller gewann seine Klasse.

Hans Herrmann: Talentierter Jungspund

Am 12. Oktober 1953 ist Hans Herrmann, 25-jähriger Konditor aus Stuttgart, noch ein Greenhorn. Trotzdem lässt er bei seinem heißen Ritt über die Solitude im 300 SL Rennsportwagen selbst alte Hasen wie Karl Kling und Hermann Lang weit hinter sich. Der Mercedes-Rennleiter Alfred Neubauer ist überwältigt.

60 Jahre danach erinnert sich Herrmann fürs Classic-Magazin an die Solitude und seine dortige Galavorstellung: „Das Kurvengeschlängel im Mahdental erfordert viel Gefühl – es gibt hier auf knapp vier Kilometer Länge keine Gerade. Wer hier schnell sein will, muss eine saubere Linie fahren und ein Auto mit perfekter Straßenlage haben.“ Mit 4:58 min distanziert der Jungspund die arrivierten Rennstars um 12 bzw. 19 Sekunden – selbst auf der langen schwäbischen Achterbahn sind das Welten.

Der Start beim Solitude Revival 2013 Der Start beim Solitude Revival 2013 Quelle: Bernhard Jansen

Rekordzeit: 3:49,1 Minuten

1960 wird Hans Herrmann am selben Ort bei der 1,5-Liter-Formel 2 Zweiter, knapp hinter Graf Berghe von Trips. Im Jahr darauf debütiert die Formel 1 auf der Solitude, und 1962 feiern die Lokalmatadoren von Porsche einen bis heute legendären Doppelsieg mit Dan Gurney vor Joakim Bonnier.

Solitude Grand Prix 1963: Bei einem Formel-1-Lauf brennt der rasende Schotte Jim Clark in seinem Lotus 25 F1 den bis heute gültigen Streckenrekord in den schwäbischen Asphalt: 3:49,1 Minuten. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 179,4 km/h fliegt der F1-Champion förmlich vorbei am dichten Unterholz des Stuttgarter Wildparks.

Für diese Strecke ist das ein Höllentempo. Denn um die drei Eckpunkte Glemseck, Dreispitz und Schattengrund geht’s ganz schön eng herum. Dazwischen liegen schnelle Abschnitte wie „Sandsträßle“ oder „Frauenkreuz“, aber auch ein schier endloses Gewirr von Wechselkurven. Diese sorgen regelmäßig für Unfälle.

Ein Werbeplakat aus dem Jahr 1925 Ein Werbeplakat aus dem Jahr 1925 Quelle: Daimler

Aus Sicherheitsgründen keine Genehmigung mehr

1964 treten bei Motorrad-WM-Läufen und einem Formel-1-Grand Prix Weltstars auf zwei und vier Rädern an, darunter Mike Hailwood oder Giacomo Agostini sowie Jack Brabham und Graham Hill. Ein Jahr später ertönen zum vorerst letzten Mal die Motoren an der Solitude: Für 1966 erteilt das Innenministerium aus Sicherheitsgründen keine Genehmigung mehr.

Bis heute ist nahezu die gesamte Strecke befahrbar – allerdings sind meist nur Tempo 50 oder 70 erlaubt. Die Topographie der Solitude hat es in sich und erinnert an die „Grüne Hölle“ der Nordschleife: In 382 bis 507,4 Meter Höhe schlängelt sich der Kurs auf und ab. Maximale Steigung: 18 Prozent, maximales Gefälle: 11 Prozent. Eine teils pfeilschnelle Berg- und Talbahn.

Das Hotel Glemseck steht an der gleichnamigen Kurve. Hier biegt man von der heutigen L 1187 von Stuttgart nach Leonberg scharf links Richtung Sindelfingen ab. Zuvor passiert man an Start und Ziel den Bosch-Turm, Zentrum des heutigen Solitude-Revivals. Das antike Ovalgebäude wirkt, als würde Alfred Neubauer heute noch aus dem Fenster heraus den jungen Hans Herrmann beobachten, wie er auf der Solitude erstmals sein großes Talent aufblitzen lässt.

Infos zu Strecke, Historie, Events: www.solitude-revival.org

 

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