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Fahrbericht: Rover 100 P 4 - Der Bentley für den Bürger

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Rover ist tot, es leben die ruhmreichen Vorfahren - Autos, wie der Rover 100 der Baureihe P4. Vor mehr als einem halben Jahrhundert gehörte er zum gehobenen Mittelstand.

Er war gediegen, stilvoll und seriös - und galt wurde Bürger-Bentley genannt.

Wie ruiniert man einen guten Namen? Genau, man folgt dem Beispiel von Rover. Lausige Qualität, Missmanagement, Etikettenschwindel, falsche Modellpolitik, wechselnde Besitzer - die Liste der Vergehen an dieser einst stolzen britischen Marke ist länger als eine Thronrede der Queen.

Die Ehre der Marke Rover - Blütezeit in den 1950ern

Kein Wunder, dass inzwischen nur noch Wenige etwas vom früheren Glanz dieser fünf Buchstaben ahnen - etwas Nachhilfe kann also nicht schaden. Beginnen wir in den Fünfzigern. Unter der Ägide von Maurice Wilks erlebte Rover damals seine Blütezeit. Die Baureihe P4, zu der auch der hier vorgeführte Rover 100 gehört, entwickelte sich in Britanniens Society zum bevorzugten Gefährt der oberen Mittelschicht.

Der Stil, der würdevolle Auftritt, die hochwertige, aber traditionelle Technik passten in die belaubten Straßen der feineren Außenbezirke wie der Schinken auf das Sandwich. Best of British war das Statement, das ein Rover P4 abgab - Banker, Ärzte, Anwälte, die Bowler-bewehrten -Säulen der Gesellschaft fühlten sich damit standesgemäß gekleidet. Den Jaguar überließ man lieber den notorischen Sportmützenträgern - zu auffällig, zu angeberisch, zu wenig seriös. Und Mercedes? Nicht tragbar, so kurz nach dem Krieg. Beim Parken hätten sich in der Straße die Gardinen bewegt.

"Wir ziehen es vor, unauffällige Autos zu bauen, die nicht bemerkt werden", warb Rover-Boss Wilks. Das zog damals noch, aber 1949, anlässlich der Premiere des P4, war von Understatement zunächst keine Rede. "Englischer Aristokrat schlüpft in amerikanische Kleider", entrüstete sich der "Daily Express". "Radikal, revolutionär, sensationell" tönten Teile der Fachpresse, andere wiederum wähnten Rover den Launen der Mode verfallen.

Kopisten am Werk: Der Roverbaker entsteht nach Vorbild des Studebaker Champion

In der Tat folgte man ohne Scham dem US-Trend zu integrierten Kotflügeln und Scheinwerfern - ziemlich shocking, zumal auch noch die Trittbretter dem neuen Design zum Opfer fielen. Dass der P4 damit verdächtig an den 1947er Studebaker Champion erinnert, ist übrigens kein Zufall: Wilks hatte sich zuvor eines der von Raymond Loewy und Virgil Exner gestylten Exemplare organisiert und ins Werk nach Solihull schicken lassen. Der "Roverbaker", so nannte man das Muster, diente Wilks und seinem Hausdesigner Harry Loker nicht nur als Vorlage, sondern viele Jahre auch als fahrbarer Untersatz. Mit der Zeit mutierte der Abklatsch indessen zu einem echten Briten. Das Gesicht mit dem mittig angeordneten dritten Scheinwerfer, das den frühen Modellen den Beinamen Cyclops einbrachte, wich 1952 einem respektab-leren Antlitz mit Traditionsgrill.

1954 folgte ein stattlicheres Heck mit dreiteiligem Fenster, bald darauf verliehen die Redakteure von "Autocar" dem rundlich gemütlichen Gefährt jenen Kosenamen, der etwaige US-Gene endgültig vergessen ließ und bis heute der P4-Generation anhaftet: Auntie (zu deutsch Tantchen). Zahlreiche Variationen, die sich hauptsächlich im Hubraum und in der PS-Zahl unterscheiden, hielten Auntie in den Fünzigern am Leben. Es gab Vierzylindermodelle (Rover 60 und 80) und diverse Sechszylinder (Rover 75, 95, 100, 105 und 110), wobei die letzten Ausführungen (95 und 110) bis 1964 durchhielten. 130.342 Exemplare verließen die Werkshallen, 16.521 davon trugen wie das Schmuckstück auf diesen Seiten die Bezeichnung "100". Vom Herbst 1959 bis zum Herbst 1962 fungierte der Rover 100 als Topmodell der Baureihe.

Kräftig und souverän: 104 PS für den Rover 100 P4

In Zahlen heißt das 2,6 Liter Hubraum verteilt auf sechs Zylinder, die 104 PS bewerkstelligen - wacker, selbst im Vergleich mit der viel moderneren zeitgenössischen Heckflosse, die sich als 220 mit 95 PS begnügte. Der üppig bemessene Hubraum bürgte für sattes Drehmoment, die -siebenfach gelagerte Kurbelwelle für beste Laufkultur, ein Vierganggetriebe mit Overdrive für relaxte Drehzahlen. Da fällt die Tatsache, dass der Rover-Motor mit seinen stehend angeordneten Auslassventilen bei Vollgas etwas schwer atmet, kaum ins Gewicht.

Die Tester attestierten dem Rover 100 rund 150 km/h Topspeed und erreichten Tempo 100 in knapp 19 Sekunden - gemessen am für damalige Verhältnisse bleiernen Gewicht (1,5 Tonnen) und dem Luftwiderstand einer Schrankwand gar nicht übel. Wie bei allen P4 sitzt die Karosserie auf einem mächtigen Rahmen. Weil Stahl im Nachkriegsengland knapp war, presste man Hauben und Türen aus Aluminium.

Klassisch das Fahrwerk: Hinten spurt eine Starrachse an Blattfedern, immerhin beruhigt von -Teleskopdämpfern. Der Zeit voraus hingegen die Scheibenbremsen vorn. Doch für die Kundschaft dürften technische Feinheiten wie diese kaum von Belang gewesen sein. Großen Wert legte der Rover-Käufer stattdessen auf Stil, gepaart mit ehrlicher Qualität und hohem Wellnessfaktor. Und da ist man bei Auntie genau an der richtigen Adresse. Einen P4 besteigt man wie ein Zugabteil. Die Fondtüren sind hinten angeschlagen (stimmt, genau wie beim neuen Rolls-Royce Phantom), keine -lästigen Verrenkungen also beim Türen schließen. Drinnen empfängt den Fahrgast eine schwere Ledergarnitur ? zwei Sofas mit fetten Armlehnen. Die Atmosphäre atmet schummrige Gediegenheit, aus erhabener Position fällt der Blick auf ein wohl geordnetes Instrumentenbrett, das an eine antike Kommode erinnert - alles höchst einladend, nichts aufgebrezelt, stattdessen seriöse Qualität.

Rover 100 P4 - Der Bentley für Bürger

Ein Bentley für Bürger eben - den Ruf, der dem P4 einst vorauseilte, hat der Wagen zweifellos verdient. Daran ändert auch der Fahreindruck nichts. Die Botschaft des Rover: Hier wird anständig gefahren, denn übertriebene Hast ist schlecht für die Verdauung. Folglich beschleunigt man nicht, sondern nimmt Fahrt auf, während sich der Sechszylinder nuschelnd ins Zeug legt. Lärm war den Rover-Ingenieuren seinerzeit ein Gräuel. Entsprechend wenig belastet der P4 die Ohren. Angenehmer ließ es sich in den Fünfzigern nicht reisen, zumindest nicht in dieser Preisklasse (Jaguar 2.4-Niveau). Was man anfasst, funktioniert mit geölter Präzision. Kleinigkeiten, wie der zum Fahrer hin verschiebbare Schalthebel oder die Werkzeugschublade unter dem Handschuhfach, verraten viel Liebe zum Detail. Bevorzugte Gangart: Majestätisch, bisweilen auch nautisch, denn Kurven umrundet ein P4 mit kräftiger Schlagseite, wobei das servolose Steuer dem Eigner das Hanteltraining ersparte.

Schön jedoch, wie die Federung Unebenheiten auspolstert, während man im holzgetäfelten Innenraum landestypischen "Pipe-and-Slipper"-Komfort genießt - höchstens durch einen offenen Kamin und bleigefasste Fenster noch steigerungsfähig. Addiert man zu diesen Tugenden noch die tief verwurzelte Solidität und erwiesene Zuverlässigkeit des Rover, dann ist es kein Wunder, dass er auf der Insel bis heute eine treue Gefolgschaft hat - Leute wie den Computer-Fachmann John Gibson etwa, der sich einen P4 als Firmenwagen gönnt und damit in zwölf Jahren 582.000 Kilometer abspulte. "Einen BMW", sagt er, "hat ja jeder. Einfach langweilig - keine Klasse, kein Charakter, uninteressant." Aber auch bei uns gibt es P4-Connaisseure. Für Markus-Peter Dürkes, Besitzer des hier gezeigten Exemplars, sind Aunties spezielle Reize jedenfalls unwiderstehlich. Dagegen steht sogar ein Mercedes 300 SEL 6.3 , der andere Klassiker im Stall des Betriebswirts, auf verlorenem Posten.  

Quelle: Motor Klassik

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